Damit Kinder sich vielseitig bewegen, braucht es nicht nur große, zentralisierte Spielplätze. Viel entscheidender sind bewegte Eltern als Vorbild und Wohnumfelder mit Lücken, die Kindern als Spielraum dienen und ihnen eine Entwicklungsnische bieten. Prof. Dr. Rolf Schwarz, dreifacher Vater und Experte für kindliche Bewegungsentwicklung, erklärt uns, warum das so wichtig ist.

Herr Prof. Dr. Schwarz, Spielplatzkinder bewegen sich sehr vielfältig und das ist wichtig für die kindliche Entwicklung. Warum?

Das hängt ganz einfach damit zusammen, wie Kinder die Welt begreifen. Wir als Erwachsene lesen vielleicht Bücher, wir diskutieren, wir forschen im kognitiven Sinne. Kinder aber machen das ganz anders. Kinder bewegen sich mit ihrem Körper durch die Welt auf eine sehr leichte, spielerische, explorative, neugierige Art und Weise. Dadurch begreifen sie die Welt. Das Wort „be-greifen“ – hier verstanden ganz im Sinne einer motorischen, also bewegten Tätigkeit. Deshalb brauchen Kinder so viel Bewegung wie möglich. Draußen beim Spielen an der frischen Luft haben Kinder viel Bewegungsfreiheit.

Die kindliche Bewegung muss also unbedingt raus?

Das würde ich gar nicht so formulieren. Sondern die Welt will rein. Kinder holen sich einfach die Dinge, die sie attraktiv, sympathisch, faszinierend finden. Und was sie dazu brauchen, ist Bewegung. Bei Kindern verbindet sich die geistige, sinnliche Neugier auf die Welt auf eine ganz wunderbare Art und Weise mit der natürlichen Freude an der körperlichen Bewegung. Dadurch schaffen Kinder es, mit ihren Sinnen die Welt zu verstehen und dabei auch noch Spaß zu haben. Man möge sich vorstellen, als Erwachsener spielerisch durch die Welt zu tanzen und dabei mehr oder minder nebenher die Dinge zu begreifen. Da würde ich viel für geben, wenn das auch so für uns Erwachsene funktionieren würde.


Prof. Dr. Rolf Schwarz ist Professor für Bewegungs- und Spielentwicklung von Kindern mit den Schwerpunkten Diagnostik und Intervention am Institut für Bewegungserziehung und Sport der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe. Er forscht dort hauptsächlich zur entwicklungspädagogischen Optimierung von Spielräumen, Bewegungs- und Sporträumen in der Stadt, Bewegung, Kognition und sozialemotionale Entwicklung im Elementar- und Grundschulbereich, Förderung von Mädchen aus Migrantenfamilien durch Fußball sowie die Entwicklung von settingspezifischen Kitakonzepten und Qualitätsevaluation (z.B. Bewegter Kindergarten, Waldkindergärten).


Haben tatsächlich alle Kinder Freude an der Bewegung? Was ist mit den klassischen Stubenhockern – heute wohl eher Stuben-Zocker?

Die Angebote der digitalen Medien […] bilden mittlerweile einen künstlichen Konkurrenten des Sitzens gegenüber dem natürlichen Bewegungsbedürfnis. 

Prof. Dr. Rolf Schwarz

Freude an der Bewegung haben normalerweise alle Kinder. Bei einigen ist diese Freude allerdings stärker ausgeprägt als bei anderen. Manche Kinder sind einfach noch gieriger und lustbetonter als andere, die eher etwas zurückgezogener, defensiver oder verhaltener agieren. Nichtsdestotrotz bewegen sich auch diese Kinder grundsätzlich sehr gerne.

Heutzutage gibt es jedoch auch andere verlockende Reize, mit denen das Kind aufgrund der evolutionären Hirnentwicklung nur schwer zurechtkommt. Die Angebote der digitalen Medien haben ein erhöhtes Suchtpotential und bilden mittlerweile einen künstlichen Konkurrenten des Sitzens gegenüber dem natürlichen Bewegungsbedürfnis. Von der Sinnesverarmung mal ganz zu schweigen. Umso mehr kommt es darauf an, die Bewegungsfreunde der Kinder zu wecken bzw. herauszukitzeln.

Kind am ipad
Digitale Medien üben eine große Anziehung auf Kinder aus und sind auch ein Grund dafür, warum sich Kinder weniger bewegen. Foto: StockSnap / pixaby

Zum Beispiel durch den Bau attraktiver Spielplätze im direkten Wohnumfeld?

Wir wissen aus der Forschung: Kinder brauchen nahegelegene Spielräume. Also ist gegen attraktive Spielplätze grundsätzlich nichts einzuwenden. Aber die Realität ist leider eine ganz andere: Die Spielplätze im unmittelbaren Wohnumfeld werden immer seltener und immer weniger attraktiv, weil einfach die Freiflächen fehlen.

Jede Lücke wird heutzutage bebaut. Spielflächen werden sogar für die Gewinnung von neuem Bauland aufgegeben. Hinzu kommt der fließende Verkehr auf den unendlichen Straßen. Auch der stehende Verkehr, in Form von parkenden Autos, ist ein großes Problem geworden. Dieser Parkraum nimmt Kindern potenzielles Spielareal auf den Straßen. Wir verbauen, zerschneiden und verinseln unsere Umwelt immer stärker. Damit die Spielplätze dennoch nicht ganz wegfallen, bauen wir aus Verlegenheit und als Feigenblatt einen großen, zentralisierten Spielplatz weiter außerhalb.

Zu diesem Spielplatz müssen die Eltern ihre Kinder dann fahren, weil sie den nicht alleine erreichen können …

Das ist absurd. Wir bringen unsere Kinder mit einem passiven Transportmittel zu einer Spiel-Insel. Dort sollen sie sich dann bewegen – einmal ganz schnell und viel austoben bitte – und dann werden die Kinder wieder eingepackt und zurück nach Hause gefahren. Wo sie den Rest des Tages in geschlossenen Räumen verbringen. Übrigens, die Forschung belegt, 90 Prozent des Tages halten sich Kinder in geschlossenen Räumen auf.

Auch weil die Kinder tagsüber viele Stunden in KITA und Schule verbringen, oder?

Das Wohnumfeld sollte so gestaltet sein, dass die Eltern sich wieder trauen ihre Kinder vor der eigenen Haustür spielen zu lassen.

Prof. Dr. Rolf Schwarz

So ist es. Wir haben in unserer Gesellschaft etwas aufgebaut, was es sehr schwierig werden lässt, Bewegung so häufig, so intensiv und so regelmäßig wie möglich umzusetzen. Durch den Ganztag in KITA und Schule sind Kinder immer länger in Einrichtungen. Und in diesen Einrichtungen sitzen, stehen oder liegen die Kinder zu viel. Das muss sich dringend ändern. Das Konzept der „Bewegten Schule“ kann, im wahrsten Sinne des Wortes, an dieser Stelle viel BEWEGEN. Und, um wieder auf das Wohnumfeld zurückzukommen … dieses sollte so gestaltet sein, dass die Eltern sich wieder trauen ihre Kinder vor der eigenen Haustür spielen zu lassen.

Ein grüner Park vor der Wohnungstür lädt zu Spiel und Bewegung ein. Was für ein Spaß, einen Drachen steigen zu lassen und ihm nach Herzenslust hinterherzulaufen! Foto: Schilling

Ideal wäre also: Tür auf, Kinder raus?

Ja, das wäre die ideale Bewegung. Ich schicke mein Kind raus und lasse es dort spielen, was es will. Es kann draußen jede Menge Abenteuer erleben und sich die Welt eigenständig erobern. Es kann nach den eigenen Vorstellungen explorieren, Dinge finden, ausprobieren, basteln, verändern und sich die Welt selbst aufbauen – mit viel sinnlicher Bewegung. Nur dann haben Kinder die Möglichkeit, sich frei zu entfalten und die Welt in Bewegung zu erobern. Nur dann können sie Erlebnisse kreieren, die ihnen im vorstrukturierten Wohnzimmer des Zuhauses nicht zur Verfügung stehen. Denn die Welt findet draußen in Bewegung statt. Und da braucht es zunächst erstmal keinen sozial künstlichen Stimulus von außen, sondern nur ein geeignetes Umfeld.

Sie meinen, auch Spielplätze wären dann überflüssig?

Und so langsam setzt es sich durch, dass wir nicht mehr nur jeden Spielplatz einzeln betrachten, sondern viel vernetzter denken.

Prof. Dr. Rolf Schwarz

Richtig. Ganz genau. Das muss man ganz klar so sagen. Spielplätze sind, bei Lichte betrachtet, die Antwort einer Gesellschaft auf eine tatsächlich kranke Entwicklung. Spielplätze sind eine Art von kompensatorischer Bildungs- und Entwicklungsinsel geworden.

Doch zum Glück dreht sich langsam der Wind. Städtebauer und -entwickler versuchen das Ruder rumzureißen, indem sie mehr verkehrsberuhigte Bereiche planen. Die Kinderfreundliche Kommune e.V. setzt sich beispielsweise für eine verbesserte Spielraumplanung ein. Immer mehr Landschaftsarchitekten und Städteplaner begreifen, dass wir an diejenige Klientel denken müssen, die selbst keine Lobby hat, nämlich die Kinder. Und so langsam setzt es sich durch, dass wir nicht mehr nur jeden Spielplatz einzeln betrachten, sondern viel vernetzter denken.

Was konkret bedeutet es „vernetzt“ zu denken?

Das bedeutet, dass das Wohnumfeld von Kindern so gestaltet sein muss, dass Kinder sich darin frei und eigenständig bewegen können. Ausgestattet mit ausreichend Spiel- und Freiräumen, auf denen sich Kinder ungezwungen austoben und die sie auf eigene Faust erobern können. Das kann beispielsweise eine nahgelegene Grünfläche sein, zu der Kinder aktiv zu Fuß gehen oder mit dem Fahrrad, Dreirad, Roller fahren und im Anschluss an das Draußenabenteuer wieder aktiv nach Hause gehen.

Natürlich sind auch attraktive Spielplätze im nahen Wohnumfeld sinnvoll. Diese sollten jedoch, neben den klassischen Spielgeräten, wie Schaukel oder Rutsche, am besten Freibereiche mit hohem Naturanteil haben. Kinder brauchen unbedingt Bäume, Büsche, Hecken (auch mit Dornen), Drecklöcher, Steine, Äste, Wasser, Matsch oder Laub. Sie brauchen Bereiche, in denen sie sich auch mal so richtig schön dreckig machen können und Elemente, die sie selbst gestalten und manipulieren können.

Warum brauchen Kinder solche manipulierbaren Spielelemente?

Die Entwicklung eines Kindes verläuft dann positiv, wenn es sich an veränderbaren Dingen abarbeiten kann. Es ist diese Veränderbarkeit, an der Kinder wachsen und sich entwickeln. Dieses Ping-Pong-Spiel von äußerer Einwirkung und eigener Entwicklung ist ein ganz Wichtiges. Das gelingt aber nur, wenn Kindern manipulierbare Objekte (Matsch, Dreck, Sand, Wasser, usw.) zur Verfügung stehen. Dinge also, die Kinder deformieren können und auch wieder kaputthauen können, wie z. B. die selbstgebaute Sandburg. Dadurch stellen Kinder fest, dass sie eine Selbstkontrolle über die Dinge haben und selbst bestimmen, was damit passiert. Das ist wichtig für den Selbstwert.

Spielplatz Meßstetten
Der Spielplatz auf dem Dorfplatz in Meßstetten bietet einen interessanten Mix aus Spielgeräten und naturnaher Spielumgebung. Foto: Spielplatztreff.de / macomber

Ich finde übrigens, ein Spielplatz ist dann gelungen, wenn sich Natur und Kultur (Spielgeräte) harmonisch ergänzen. Spielgeräte ermöglichen Kindern Erlebnisse, die die Natur nicht bietet. Das ist ja eigentlich auch das, was uns Menschen ausmacht und weiterbringt, dass wir das Beste aus der Natur weiterentwickeln. 

Welche Spielgeräte sollten auf einem guten Spielplatz nicht fehlen?

Ein Klassiker ist beispielsweise die Schaukel. Die Schaukel funktioniert deshalb so gut bei Kindern, weil sie über das Schwingen im Innenohr eine Irritation der Hörknöchelchen verursacht. Diesen leichten Schwindel empfinden Kinder als höchst angenehm. Die Frage ist, in welchen Variationen können wir die Schaukel anbieten? Als Doppelschaukel, als Riesenschaukel, als Paarhockerschaukel, als Kleinkindschaukel, als Seilschaukel?

Ältere Kinder brauchen heftigere Reize, kleine Kinder brauchen sanftere Reize. Wir müssen die Angebote auf den Kompetenzgrad der Nutzerinnen und Nutzer anpassen. Das gilt grundsätzlich für alle Spielgeräte. Dazu muss man vorher wissen, wie sich die Bevölkerung vor Ort zusammensetzt und welche Kinder jetzt und in den kommenden Jahren was genau brauchen. Ein cooler Spielplatz ist der, der vorausdenkt für die Bevölkerung, die an Ort und Stelle wohnt.

Was können Eltern tun, um für ausreichend Bewegung ihrer Kinder zu sorgen? 

Die beste Bewegung ist die Bewegung, die überhaupt ermöglicht wird. Und darum müssen Eltern selbst Vorbild sein: Selber viel Fahrrad fahren mit dem Kind, Spazieren und Wandern gehen, den Abend nicht vor dem Fernseher, sondern mit einem handmotorisch und sozial herausforderndem Gesellschaftsspiel verbringen.

Bewegungsförderung fängt schon ganz früh an – viel zu Fuß gehen, öfter mal das Auto stehen lassen 🙂 Foto: MabelAmber / pixabay

Wer keinen eigenen Garten hat, soll sich von der Kommune den aktuellen Spielraumplan geben lassen. Jede Stadt, jedes Dorf sollte so eine Karte haben, damit sich Familien in der vorhandenen Bewegungsumwelt zurechtfinden. So können diese Bewegungsräume aktiv erkundet werden. Weiterhin sind Sportvereine eine sinnvolle Option. Die meisten Sportarten haben mittlerweile spielerische und nicht bloß wettkampforientierte Angebote auch für Kleinkinder. Selbstverständlich fahren die Eltern dann aber nicht mit dem Auto zum Vereinsgelände!

Alles gute Verhalten nutzt aber nichts, wenn die Verhältnisse, also die Umwelt nicht dafür geeignet ist. Und die muss politisch gestaltet werden. Gute Familienpolitik ist jene, die sich für die tägliche Sportstunde im Unterricht einsetzt, eine bessere Bewegungsausbildung für ErzieherInnen stark macht und sich auch in die kindgerechte Verkehrs- und Wohnplanung einmischt. Sozialer Wohnungsbau bedeutet nämlich gerade nicht (!) jede Lücke zu schließen. Vielmehr sind es jene Lücken, die Kindern als Spielraum eine Entwicklungsnische bieten.

Vielen Dank, Herr Prof. Dr. Schwarz für diese interessanten Einblicke! Wie kinderfreundlich ist euer direktes Wohnumfeld? Tür auf und Kind raus oder doch eher Autoshuttle zum nächsten Spielplatz? Und wie schafft ihr es, Bewegungsmomente im Alltag unterzubringen? Schreibt es gerne in die Kommentare.


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