2011 kommt Cornelia Dittrich in Berlin mit Nachbarn auf die Idee für ihre Kinder vor der Haustür eine Temporäre Spielstraße einzurichten. Denn sie ist davon überzeugt: „Die Straße gehört doch uns allen!“ 

Dass es bis 2019 dauern würde, bis mit der Böckhstraße in Berlin Kreuzberg die erste reguläre Temporäre Spielstraße startet, ahnte die dreifache Mutter damals nicht. Gerade anfangs ist es mühselig. Doch die Hartnäckigkeit zahlt sich aus. Im März 2019 gründet sich das Bündnis Temporäre Spielstraßen, u. a. mit den großen Playern Deutsches Kinderhilfswerk, BUND Berlin sowie der Dachverband Berliner Kinder und Schülerläden und Cornelia Dittrich koordiniert dessen Arbeit. Während der Corona-Krise 2020 nimmt das Thema noch einmal kräftig an Fahrt auf. Die Berliner Landesregierung steigt mit ein, verankert Temporäre Spielstraßen explizit im Mobilitätsgesetz und fördert diese jährlich mit 50.000 Euro (zunächst für zwei Jahre).

2021 – also 10 Jahre nachdem Cornelia Dittrich die Initiative ergriffen hat – ist die Ausgangslage für Bürgerinnen und Bürger so gut wie nie zuvor: die Straße kann als Spielort ein Stück weit zurückerobert werden. Cornelia Dittrich erzählt uns, warum Spielstraßen Städte lebenswerter machen und was es braucht, noch viel mehr davon einzurichten.

Frau Dittrich, wie stolz sind Sie, dass es Ihre Idee der Berliner Spielstraße nach so vielen Jahren die Landespolitik erreicht hat und es nun hoffentlich mit großen Schritten weiter vorangeht?

Cornelia Dittrich
Cornelia Dittrich ist nach wie vor gerne als Kietzlots:in auf den Temporären Spielstraßen Berlins im Einsatz. Foto: Dittrich

Sehr stolz! Und natürlich glücklich. So lange durchzuhalten war aber nur möglich, weil es von Anfang an wichtige Mitstreiterinnen und Mitstreiter gab, allen voran die Initiative in der Gudvanger Straße und das Deutsche Kinderhilfswerk, aber auch in Politik und Verwaltung gab es immer wieder wichtige Unterstützerinnen und Unterstützer. Auch aus Bremen, wo Spielstraßen schon viel länger Thema sind als in Berlin. Wenn man sich für Spielstraßen engagiert, begegnet man wunderbaren Menschen. Das macht so viel Spaß und gibt enorm Kraft! Sowas ist nur gemeinsam zu schaffen.

Warum machen Tempo­räre Spiel­straßen eine Stadt lebenswerter?

Auf jeden Fall kinderfreundlicher und damit natürlich auch lebenswerter. Ich finde es extrem schade, wie viel vom öffentlichen Raum für den Straßenverkehr und vor allem auch für den parkenden Verkehr draufgeht. Die Straße gehört doch uns allen! Deshalb sollten wir auch hinterfragen dürfen, ob das so bleiben muss.

Früher haben Kinder häufig auf der Straße gespielt…

Es geht nur um vier Stunden pro Woche! Dennoch hat das ein Wahnsinnspotential, weil es vor Augen führt: wow, es funktioniert auch anders!

Cornelia Dittrich

Das ist inzwischen leider in Vergessenheit geraten. Eine Temporäre Spielstraße ist eine ganz bescheidene Sache, um die Straße als Spielort ein Stück weit zurückzuerobern. Asphalt ist ein toller Spieluntergrund und bietet so viele attraktive Spielmöglichkeiten. Er eignet sich beispielsweise wunderbar zum Inliner, Fahrrad oder Roller fahren. 

Kinder fahren Inliner auf der Spielstraße
Während die Kinder sich auf ihren Inline Skates austoben, achten die Kietzlots:innen auf die Sicherheit. Foto: Simon Selle

Es geht nur um vier Stunden pro Woche! Dennoch hat das ein Wahnsinnspotential, weil es vor Augen führt: wow, es funktioniert auch anders! Außerdem ist die Straße ein neutraler Begegnungsort, ganz ohne Konsumzwang.

Alle können sich angesprochen fühlen und mitmachen?

Die Bezeichnung „Nachbarschaftsstraße“ transportiert diese Idee sogar noch besser als Temporäre Spielstraße. 

Cornelia Dittrich

Genau. Auf den Spielplatz gehen in der Regel nur Leute mit Kindern. Während du auf der Straße vor deiner Haustür unkompliziert deine ganze Nachbarschaft triffst. Leute stellen Stühle und Tische raus und kommen einfach miteinander ins Gespräch. Die Bezeichnung „Nachbarschaftsstraße“ transportiert diese Idee sogar noch besser als Temporäre Spielstraße. Wir behelfen uns deshalb mit dem etwas sperrigen Begriff „Temporäre Spiel- und Nachbarschaftsstraße“.

Wissen denn die Nachbarn immer was mit einer leeren Straße anzufangen?

Tatsächlich haben die Leute manchmal Anlaufschwierigkeiten und wissen zunächst gar nicht, was sie mit dem vielen Platz auf der Straße machen sollen. Wir haben verlernt auf der Straße zu spielen. Viele fühlen sich auch gehemmt auf die Straße zu gehen. Sie trauen sich einfach nicht drauf. Und manchmal herrscht so eine Art Konsumhaltung, nach dem Motto: was wird mir hier geboten? Doch die Idee ist: Da ist die Spielstraße und bitte schön!

Eine Spielstraße funktioniert ganz ohne Programm und Spielmaterialien?

Eigentlich ja. Aber die Erfahrung hat gezeigt, einen Grundstock an Spielmaterial als Anreiz, ist schon ganz hilfreich. Wenn du Hütchen in die Mitte der Straße stellst, dann ist das wie eine Einladung und die Leute kapieren: okay hier dürfen wir hin, dann ist der Damm gebrochen. Auch Kreide ist ein Selbstläufer.

Kinder spielen auf der Temporären Spielstraße in Berlin Pankow
Bunte Spielmaterialien helfen das Eis zu brechen und locken die Kinder auf die Spielstraße Gneiststraße in Berlin Pankow. Foto: Patrizia Flores
Kinder auf der Spielstraße
Kinder entdecken auf der Spielstraße den Spaß am Stelzen laufen und Hula Hoop Reifen schwingen. Fotos: Bündnis Temporäre Spielstraße

Wie wird denn vor Ort eine Spielstraße organisiert? 

Wichtig ist, dass es genügend Freiwillige gibt, die die Spielstraße regelmäßig durchführen. Dafür sperren sie mit Hilfe von Barrieren die Straße, damit niemand in die Spielstraße reinfährt und jederzeit die Sicherheit gewährleistet ist. Pro Barriere braucht es zwei Freiwillige – in Berlin nennen wir sie Kietzlots:innen – die sich in der Nähe aufhalten und mit ihren Warnwesten gut als Ansprechpersonen zu erkennen sind. Übrigens tragen die Kietzlots:innen nicht die Verantwortung für das, was da auf der Straße passiert. Die Straße bleibt weiterhin öffentlicher Raum und jede/r haftet für sich selbst, Eltern für ihre Kinder.

Das klingt einfach. Warum ist es trotzdem so schwierig Spielstraßen einzurichten?

Die Andersnutzung von Straßen ist in Deutschland leider relativ schwierig, denn lt. Straßenverkehrs-Ordnung (StVO) sind Straßen eben nur für den Autoverkehr gedacht. Das bedeutet, mit gutem Willen seitens der Verantwortlichen in den Straßenverkehrsbehörden sind Spielstraßen problemlos möglich. Ohne diesen guten Willen wird es für die Initiatorinnen und Initiatoren von Spielstraßen jedoch recht schwierig. In England beispielsweise ist das ganz anders geregelt. Da steht eindeutig im Road Traffic Regulation Act: Straßen können zeitweise zum Zwecke des Spielens gesperrt werden, mit der Folge, dass die Playstreets deutlich verbreiteter sind.


Straßenschild „Spielstraße“ – ein großes Missverständnis

Die echte Spielstraße wird durch das Verkehrszeichen 250 (Durchfahrt verboten) und das Zusatzzeichen „Kinderspiele erlaubt“ (VZ 1010-10) gekennzeichnet. Es ist keinerlei Fahrzeugverkehr, auch nicht für Anlieger zugelassen.

Straßenschilder Spielstraße und verkehrsberuhigter Bereich
Die wenigsten kennen das echte Spielstraßen-Schild. Grafik: Spielplatztreff.de

Deutlich verbreiteter und deshalb auch bekannter ist das blaue Verkehrsschild für den „Verkehrsberuhigten Bereich“. Im Volksmund wird dieses Schild auch fälschlicherweise als Spielstraßen-Schild bezeichnet, obwohl es das gar nicht ist. Denn in diesen verkehrsberuhigten Bereichen ist generell Durchgangsverkehr in Schrittgeschwindigkeit erlaubt. Fußgänger und Kfz-Fahrer gelten zwar als gleichberechtigt, aber wir alle wissen aus Erfahrung: Kinder auf solchen Straßen spielen zu lassen, ist lebensgefährlich!


Also ohne aktive Unter­stützung durch die Ver­waltung geht es nicht?

Leider nein. Nicht zufällig wurde die erste Spielstraße in der Böckhstraße im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg eingerichtet. Hier kam nämlich alles zusammen. Die Verantwortlichen in der Bezirksverwaltung haben unsere Idee von Anfang an unterstützt und es gab genügend Freiwillige vor Ort. Seit 2019 wird die Straße von April bis September jeden Mittwoch ab 14 Uhr für vier Stunden zum Spielen gesperrt.

Erst nachdem die Böckhstraße den Durchbruch geschafft hat, ging es auch in anderen Bezirken voran. Auch in Pankow und Neukölln gibt inzwischen Spielstraßen mit fest installierten Schildern.

Eignen sich alle Straßen als Spielstraßen?

Nein, nicht alle. Die Straßen sollten wenig befahrene Nebenstraßen sein, im Sommer über ausreichend Schatten verfügen, damit es nicht zu heiß wird. Glatter Asphalt ist ebenfalls von Vorteil, Kopfsteinpflaster eher nicht. Anliegende Tiefgarageneinfahrten sind extrem ungünstig.  Natürlich sollten Kinder in der Umgebung wohnen, hilfreich ist auch, wenn Institutionen wie Familienzentren, Kitas, etc. eingebunden werden können. Wenn die Straße direkt neben einem Spielplatz liegt, kann es sein, dass die Kinder dann doch lieber auf den Spielplatz gehen – da wissen sie, was zu tun ist. Aber das hängt sehr von der jeweiligen Situation ab.

Auch parkende Autos sind für Spielstraßen problematisch, oder?

Klar, eine Spielstraße kann natürlich bei Anwohnern auch für Ärger sorgen und parkende Autos sind regelmäßig Thema. Radfahrer übrigens auch, da sie oft uneinsichtig sind, wenn man sie bittet abzusteigen. Eine Spielstraße ohne Autos ist natürlich am besten. Dann haben alle mehr Platz und man muss nicht so viel aufpassen. Macht man nichts, bleiben die Autos stehen. Daher heften wir immer vorher freundliche Zettel an alle Autos wo draufsteht: „Danke für’s Umparken!“ Jede Woche wieder neu. Außerdem gibt es ein komplettes Halteverbot oder in Teilbereichen. Autos, die dort noch stehen, können jederzeit rausfahren. Dann laufen Kietzlots:innen im Schritt vorneweg, damit es sicher abläuft.

Spielstraße Jacobsohnstraße Berlin Pankow
Ohne die parkenden Autos hätten die Kinder noch mehr Platz zum Spielen – Blick von oben auf die Spielstraße Jacobsohnstraße in Berlin Pankow. Foto: Markus Pfeiffer

Abgeschleppt wird aber trotzdem nicht. Das ist aufwändig, teuer, stört den Spielstraßenbetrieb und polarisiert natürlich total. Hin und wieder sind ein paar Strafzettel nötig. Ziel ist es, den Widerstand von Anfang an zu vermeiden, indem alle mit einbezogen werden und die Idee gut kommuniziert wird. Niemand soll sich übergangen fühlen.

Sie selbst sind immer noch als Kietzlots:in im Einsatz, wenn Sie Zeit haben. Was finden Sie besonders reizvoll an dieser Aufgabe?

Du nimmst dir einen Klappstuhl mit raus, machst es dir gemütlich, trinkst ‘nen Kaffee, plauderst mit den Leuten, guckst ein bisschen nach dem Rechten… Mir macht dieser Austausch unter Nachbarn total viel Spaß! Ich merke, wenn man freundlich, kommunikativ und zugewandt und im Kiez verankert ist, kommt man mit den Leuten leicht ins Gespräch. Leider ist aber auch eine Erfahrung, dass viele Leute zwar begeistert sind von der Idee und ihr Interesse bekunden. Sobald es jedoch konkret wird, ziehen nicht wenige wieder zurück, weil sie befürchten, die Aufgabe sei zu schwierig oder zu verpflichtend.

Werden Kietzlots:innen geschult, um auf den „Job“ gut vorbereitet zu sein? 

Es gibt eine schriftliche Anleitung, was zu tun ist und beim ersten Termin muss jemand vom Amt dabei sein. Zusätzlich planen wir gerade ein Schulungsvideo. Außerdem wird in Zusammenarbeit mit der Landesregierung Berlin ein Leitfaden entstehen, sowohl für die Bezirksverwaltungen als auch die Initiativen vor Ort. Das ist sinnvoll, um die Idee der Spielstraßen in ganz Berlin zu etablieren.

Der Durchbruch Ihrer Idee kam letztes Jahr mit Corona. Da wurden plötzlich im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg 20 Spielstraßen eingerichtet…

Ja, tatsächlich! Corona hat unserem Lieblingsprojekt einen richtigen Schub verpasst. Die Stadt hatte nach dem ersten Lockdown im Mai 2020 Sorge vor überfüllten Spielplätzen. Also war die Idee zusätzlich Temporäre Spielstraßen einzurichten, um mehr Platz zum Spielen zu schaffen und die Spielplätze zu entlasten.

Kinder tragen Masken und malen mit Straßenkreide
Gerade während Corona war das Spielen auf der Spielstraße für Kinder besonders wichtig. Foto: Bündnis Temporäre Spielstraße

Das Straßen- und Grünflächenamt in Friedrichshain-Kreuzberg veröffentlichte daraufhin im Internet eine Liste mit 20 potentiellen Spielstraßen und rief die Menschen dazu auf, sich freiwillig für die Betreuung einer Spielstraße als Kiezlots:innen zu melden. Fanden sich mindestens acht Personen für eine der vorgeschlagenen Straßen, wurde die Spielstraße genehmigt.

Und es haben sich sehr viele gemeldet…

Der Ansturm war riesig. Innerhalb von 3 Tagen registrierten sich 300 Freiwillige. Längst nicht alle sind bei der Stange geblieben. Aber es hat gereicht, um mit der Wiedereröffnung der Spielplätze Anfang Mai 2020 sonntags zwischen 13 und 19 Uhr zusätzlich 20 Spielstraßen in Berlin Friedrichshain-Kreuzberg für den Verkehr zu sperren. Acht davon blieben die ganze Saison bis Ende September geöffnet. Auch der Bezirk Neukölln reagierte umgehend und etablierte einige Spielstraßen. Nicht alle haben sich am Ende als geeignet erwiesen, aber es war eine wunderbare Gelegenheit wertvolle Erfahrungen zu sammeln.

Wie geht es 2021 mit den Spielstraßen weiter? Was muss sich noch verbessern?

Im Moment ist der Antragsprozess noch etwas kompliziert und die Genehmigung noch kein Selbstläufer in Berlin. Dennoch gibt es immer mehr Initiativen, die gerne mit ihrer Spielstraße starten möchten. Die sehen, es geht in Kreuzberg, Pankow und Neukölln. Warum soll das in unserem Bezirk nicht gehen? Sobald der Leitfaden und das Schulungsvideo draußen sind, wird es leichter werden.

Karte mit Spielstraßen in Berlin
Am Aktionstag „Temporäre Spielstraßen“ wurden am 22. September 2020 gleichzeitig 24 Straßen zum Spielen gesperrt.

Besonders interessant wird auch der 22. September 2021 – der internationale autofreie Tag. Die Berliner Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz wird, wie im letzten Jahr, ein Zeichen setzen und zeitgleich die Öffnung vieler Spielstraßen ermöglichen. Eine gute Gelegenheit für Initiativen, es mal für einen Tag auszuprobieren und die Straße zum Spielen freizumachen. Letztes Jahr waren es 24 Spielstraßen. Ich bin gespannt, wie viele es dieses Jahr werden.

Wir sind gespannt wie es weitergeht und hoffen auf den großen Spielstraßen-Boom in Berlin 2021. Und wir freuen uns, wenn auch außerhalb von Berlin weitere Spielstraßen entstehen. Habt ihr auch Interesse? Dann wendet euch gerne an Cornelia Dittrich beim Bündnis Temporäre Spielstraßen. Sie berät euch gern.


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