Experten schlagen Alarm: Heute spielen Kinder immer seltener draußen. Woran liegt das? Wie wichtig ist es, diesem Trend etwas entgegenzusetzen? Und was können wir Eltern tun? Darüber habe ich mit Draußenspiel-Expertin Christiane Richard-Elsner gesprochen.

Frau Richard-Elsner, wie viel Bewegung an der frischen Luft brauchen Kinder für eine gesunde Entwicklung?

Christiane Richard-Elsner: Kinder im Vorschulalter sollten sich mindestens drei Stunden täglich bewegen, Kinder ab dem Schulalter mindestens neunzig Minuten am Tag, um eine gesunde Entwicklung zu unterstützen. Das sind die Nationalen Empfehlungen des Bundesgesundheitsministeriums. Neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen zufolge benötigt das Kinderauge außerdem mindestens zwei Stunden Sonnenlicht am Tag, um Kurzsichtigkeit vorzubeugen.


© Volker Beushausen

Christiane Richard-Elsner, Dr. Ing., M.A., leitet der Arbeitsgruppe Draußenkinder im ABA Fachverband. Sie beschäftigt sich in ihrer Arbeit hauptsächlich mit dem freien Kinderspiel im Freien, der eigenen Mobilität von Kindern sowie der historischen Kindheitsforschung mit einem interdisziplinärischen Fokus. Ihr empfehlenswertes Lehrbuch „Draußen spielen“ erschien 2017 im Verlag Beltz Juventa.


Es heißt, Bewegung macht nicht nur Spaß, sondern auch glücklich. Woran liegt das?

Beim Spielen werden viele Neurotransmitter, die zufrieden und glücklich machen, ausgeschüttet. Wer sich viel bewegt, kann sich besser konzentrieren und damit besser lernen. Außerdem baut natürliche Bewegung Stress ab. Kinder, die sich regelmäßig an der frischen Luft bewegen, schlafen besser und länger und sind insgesamt ausgeglichener. Das tut nicht nur dem Körper gut, sondern auch der Seele. Bewegung beugt aber auch Herz-Kreislauferkrankungen wie Bluthochdruck, Diabetes, Herzinfarkt oder Schlaganfall vor und sie ist notwendig für den Knochenaufbau. Wer sich viel draußen bewegt, ist beweglicher, kräftiger und geschickter, die Motorik ist entwickelt. Leider sind heute etwa 15 Prozent der Kinder übergewichtig. Fakt ist auch, dass sich dreiviertel der Kinder nicht einmal eine Stunde am Tag draußen bewegen. Das ist kein guter Start ins Leben.

Dabei lieben Kinder die Bewegung. Sie hüpfen, klettern, springen, balancieren oder laufen bei jeder Gelegenheit…

Das stimmt. Kinder haben einen deutlich höheren Bewegungsdrang als Erwachsene. Das ist auf unsere Entwicklungsgeschichte zurückzuführen. Als Menschen haben wir uns in einem Umfeld entwickelt, das mit viel Bewegung und Draußensein zu tun hatte. Als sich Menschen vor Hundertausenden von Jahren zum Jetztmenschen, dem Homo sapiens sapiens, entwickelten, lebten sie als Jäger und Sammler. Kinder spielten viel, erforschten ihre Umwelt selbsttätig, sahen, was die Erwachsenen machten und bekamen auf diese Weise viel von dem mit, was sie für ihr Leben als Erwachsene brauchten. Heute in unserer spezialisierten Lebenswelt reicht dieses (Lern)Verhalten natürlich nicht mehr aus. Aber die Entwicklungsgeschichte spiegelt sich nach wie vor in unseren Genen und damit auch in unserem Verhalten wider. Der erhöhte Bewegungsdrang, das neugierige, spontane Entdecken – alleine oder mit anderen Kindern – das freie Spielen sowie der kreative Umgang mit ihrer Umgebung… das sind nach wie vor ganz wichtige Verhaltensmerkmale von Kindern. Die sollten wir nicht unterdrücken, sondern fördern.

Zum Beispiel indem wir Wohnumfelder stärker auf die Bedürfnisse von Kindern ausrichten. Wie könnten diese aussehen?

Was Kinder brauchen, um Lust haben, nach draußen zu gehen, sind anregungsreiche Freiräume / Streifräume, in denen sie sicher und selbstständig unterwegs sein und in denen sie nach Lust und Laune entscheiden können, was sie spielen wollen. Sei es einen Platz oder eine Wiese zum Kicken, Bäume zum Klettern, Büsche zum Versteckspielen, Bretter zum Bude Bauen oder einen Teich zum Beobachten von Tieren. Am besten eignen sich zum Spielen naturnahe Flächen, weil sich Kinder mit Ästen, Steinen, Wasser und Pflanzen ganz unterschiedliche Spiele ausdenken können. Eine finnische Forscherin nannte diese Art von Spielraum übrigens Bullerbü!

Auf dem naturnahen Spielplatz im Ziegeleipark in Heilbronn können die Kinder nach Herzenslust buddeln und matschen. Foto: Stadt Heilbronn

Bullerbü haben aber die wenigsten Kinder vor der Haustür. Häufig können sie schon froh sein, wenn ein gut ausgestatteter Spielplatz in Fußnähe liegt.

Optimal ist die Situation vielerorts nicht, das ist richtig. Und Spielplätze haben natürlich den Nachteil, dass es dort, außer Sand, nur selten Möglichkeiten für Kinder gibt, selbstständig etwas zu verändern. Schon das Abbrechen von Ästen, um eine Bude zu bauen, wird nicht gern gesehen, mit Ausnahme auf Abenteuerspielplätzen.

Grundsätzlich sollten wir das freie Spiel draußen wieder mehr wertschätzen, als selbstverständlichen Bestandteil von Kindheit definieren und diesem mehr Raum und Zeit einräumen.

Christiane Richard-Elsner

So erleben Kinder auf Spielplätzen selten etwas wirklich Spannendes und empfinden diese Orte eher als langweilig. Aber auch wenn die Umgebung nicht Bullerbü gleicht, lässt sie sich bespielen, wenn Eltern es ihren Kindern gestatten. Deutsche Städte sind im weltweiten Vergleich grün und sicher. Es gibt Parks und auf den meisten Flächen können Kinder spielen. Auch verkehrsberuhigte Straßen stehen teilweise zum Spielen zur Verfügung. Grundsätzlich sollten wir das freie Spiel draußen wieder mehr wertschätzen, als selbstverständlichen Bestandteil von Kindheit definieren und diesem mehr Raum und Zeit einräumen.

Mehr Zeit zum Draußenspielen? Wo soll die herkommen? Oft ist der Tag der Kinder voll verplant…

Genau das sollten wir überdenken. Sehen Sie, seit der PISA-Studie sind viele Menschen davon überzeugt, dass Kinder vor allem viele unterschiedliche Bildungspäckchen abarbeiten sollten. Durch die Ganztagsbetreuung wird die Zeit, in der Kinder selbstbestimmt und nicht von Erwachsenen beaufsichtigt mit Freunden draußen spielen und sich ausruhen, sehr beschnitten. Darauf müssten Einrichtungen mehr eingehen und mehr Möglichkeiten für freies Spiel und Bewegung sowie Erholung schaffen.

Auch bei Eltern stehen pädagogisch betreute (Förder-)Angebote sehr häufig höher im Kurs als das freie Spielen. Dabei wird übersehen: was für die Zukunft besonders wichtig ist, nämlich sein Leben selbstständig anzupacken, eigene Entscheidungen zu treffen, sein Handeln zu bestimmen, seine Umwelt realistisch einschätzen zu können, kreativ und mit viel Freude an Herausforderungen heranzugehen… all das üben Kinder immer wieder im eigenständigen Spiel in anregungsreichen Freiräumen. Spielen ist kreativ. Nicht nur dort, wo Spiel, Spielplatz oder Spielzeug draufsteht, ist Spiel möglich. Da wären wir wieder beim Thema der Wertschätzung.

Am 28. Mai ist Weltspieltag. In diesem Jahr unter dem Motto: „Lasst uns draußen spielen!“ Damit wollen das Deutsche Kinderhilfswerk und seine Partner/innen im „Bündnis Recht auf Spiel“ aufmerksam machen, dass die Bedingungen für das Draußenspiel von Kindern verbessert werden müssen. Gleichzeitig ist das Motto ein Aufruf an die Eltern, ihren Kindern den nötigen Freiraum dafür zu geben.

Eigentlich bewerten es Eltern positiv, wenn ihre Kinder draußen spielen. Trotzdem sind sie besorgt…

Ja, da hat sich in der Wahrnehmung viel verschoben. Frühere Elterngenerationen trauten Kindern viel mehr Eigenständigkeit zu. Die Eltern ließen Kinder draußen spielen – das gehörte zur Kindheit einfach dazu. Früher wurden die Kinder rausgeschickt mit dem Hinweis „Spätestens zum Abendbrot seid ihr wieder da.“ Eltern wussten, dass Kinder Meinungsverschiedenheiten und Streit selbst regeln können und dass Kinder sich im Klettern, Springen, Ballspielen usw. ausprobieren wollen. Sie wussten, dass Kinder in der Regel sehr gut einschätzen können, was sie sich zutrauen und was nicht. Und Eltern sahen Schürfwunden und aufgeschlagene Knie als Teil der Kindheit und nicht als vermeidbare Gefahr.

Sie sagen, auch Eltern täte es gut, ihre Kinder öfter mal zum Spielen rauszuschicken?

Absolut. Viele Eltern fühlen sich stark unter Druck. Obwohl die Zeit für Erwerbstätigkeit steigt, steigt gleichzeitig auch die Zeit, die sie mit ihren Kindern verbringen. Stichwort „Quality time“. Zusätzlich fahren Eltern (oft sind es die Mütter) ihre Kinder zur Schule und zum wöchentlichen Freizeit-, Sport- oder Förderprogramm, weil Kinder diese Wege nicht mehr alleine zurücklegen. Eltern kennen nur zu gut diese Nachmittage, an denen sie als „Chauffeur“ ihrer Kinder komplett verplant sind und keine Zeit für sich selbst bleibt. Wenn Kinder wieder mehr selbstständig draußen spielen würden, hätten viele Eltern wieder mehr Zeit, sich ihren Angelegenheiten zu widmen, ob das nun die Steuererklärung, der Hausputz oder das Gespräch mit Freunden ist.

Also, wie packen Eltern es am besten an, wenn sie etwas verändern wollen?

Ein erster wichtiger Schritt wäre es, wenn Eltern es zulassen würden, dass Kinder ihre Wege, ob zur Schule, zum Freund oder zur Freundin oder zum Sporttraining, selbstständig zurücklegen dürften. Schon selbstständig zurückgelegte Wege bringen Bewegung in den Alltag, oft Gespräche mit Schulkameraden oder Freunden. Kinder erkunden auf eigene Faust die Umgebung, balancieren auf dem Bordstein und bekommen Abstand von den Anforderungen der Erwachsenen.

Dazu gehört auch, dass Eltern auf Spielplätzen nicht immer kontrollieren, was ihre Kinder dort machen, sondern sich auch mal bewusst zurückziehen und Kinder selbst machen lassen.

Kinder entwickeln ein höheres Verantwortungsgefühl, wenn sie nicht ständig begleitet, beobachtet oder zurechtgewiesen werden. Dazu gehört auch, dass Eltern auf Spielplätzen nicht immer kontrollieren, was ihre Kinder dort machen, sondern sich auch mal bewusst zurückziehen und Kinder selbst machen lassen. Aber auch gemeinsam macht es draußen Spaß. Ausflüge, Spaziergänge, Wanderungen, Fahrradtouren mit Kindern sind toll, wenn Picknicks und Pausen eingeplant werden, in denen Kinder die Umgebung erkunden können. Es gibt viele Möglichkeiten, mehr Draußenspiel und Bewegung in den Alltag einzubauen, wenn man will.

Vielen Dank, Frau Richard-Elsner, für dieses Interview. Wir Eltern können also, im wahrsten Sinne des Wortes, eine ganze Menge bewegen. Oder? Wie empfindet ihr das? Lasst ihr eure Kinder draußen alleine spielen? Gibt es bei euch Möglichkeiten vor der Haustür oder setzt ihr auf gemeinsame Ausflüge mit der ganzen Familie?