Kinder sollten so viel wie möglich draußen spielen, um gesund aufzuwachsen. Sie tun es jedoch immer seltener. Der Draußenspiel-Experte Prof. Dr. Peter Höfflin hat herausgefunden, wie es gelingt, Kinder wieder mehr vor die Tür zu locken. Achtung Spoiler: Der klassische Spielplatz ist es nicht.

Herr Prof. Dr. Höfflin, wo spielen Kinder heute?

Prof. Dr. Peter Höfflin: Kinder verbringen inzwischen sehr viel Zeit in Kindertageseinrichtungen, Schulen oder anderen Institutionen. Draußenspiel ist daher für viele kein selbstverständlicher Bestandteil ihrer Kindheit mehr, wie es noch in meiner Generation der Fall war. Stattdessen gehen Kinder angeleiteten Tätigkeiten in geschützten Räumen nach, spielen zu Hause in ihren Kinderzimmern und wenn sich Kinder mit ihren Freunden zum Spielen verabreden, werden sie nicht selten von ihren Eltern zu den Verabredungen gefahren, da die Kinder nicht in der Lage sind, sich ihren Weg durch den Verkehr zu bahnen oder Eltern Bedenken haben, dies zu gestatten. Der Medienkonsum spielt natürlich auch eine große Rolle – übrigens eine größere dort wo das Wohnumfeld draußen nur wenig für Kinder zu bieten hat.


Prof. Dr. Peter Höfflin lehrt an der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg Soziologie und empirische Sozialforschung, forscht zum Thema „Draußenspiel“ und Spielmöglichkeiten von Kindern in der Stadt und engagiert sich im Bündnis „Recht auf Spiel“.


 

Kinder wollen also draußen spielen, aber es fehlt ihnen an geeigneten Möglichkeiten?

Ja. Wir haben in unserer Studie „Raum für Kinderspiel!“ ganz klar festgestellt: da wo Kinder draußen spielen können, tun sie es auch. Im Durchschnitt sind Kinder dann fast zwei Stunden pro Tag (108 Minuten) draußen. Und nahezu alle Kinder dürfen in Wohnungsnähe und ohne Aufsicht der Eltern oder sonstiger Betreuungspersonen draußen spielen.

Dort, wo Kinder im Umfeld der Wohnung schlechte Draußenspiel-Bedingungen vorfinden, spielen sie im Durchschnitt nur 16 Minuten draußen und rund drei Viertel der Kinder können überhaupt nicht draußen spielen.  Sie sehen also, die soziale Ungleichheit bezüglich der Spielmöglichkeiten in der Stadt ist riesig. Hier gilt es anzusetzen.

Was macht ein kindgerechtes Wohnumfeld aus?

Da kommen gleich mehrere Faktoren zusammen. Kindgerecht ist, wenn sich Kinder (5-9 Jahre) gefahrenlos und frei in ihrem Wohnumfeld bewegen und geeignete Spielorte in nicht allzu großer Entfernung selbstständig erreichen können. Dafür brauchen Kinder sichere Wegeverbindungen quer durch ihr Wohnviertel. Denn was nützt ein toller Spielplatz, der nicht spontan aufgesucht werden kann, weil der Weg dorthin über die vielbefahrene Straße zu gefährlich ist?

Aber nicht nur Spielplätze sind wichtig. Vielmehr müssen wir das gesamte Wohnumfeld in den Blick nehmen. Kinder machen ja nicht an der Spielplatz-Grenze halt. Sie haben auch andere Orte, die ihnen gefallen: Hier ein schöner Baum zum Klettern, dort ein Bächlein oder da eine Sackgasse, in der man gut rollern kann. Kinder brauchen generell eine anregungsreiche, naturnahe Umgebung mit Nischen zum Verstecken, Begegnungsräume zum Gestalten und Verändern. Auch die Straße sollte als Spielort in den Fokus rücken, um mehr attraktive Spielmöglichkeiten für Kinder zu schaffen.

Wasser bietet so viel mehr Spielmöglichkeiten als eine schlichte grüne Wiese. Foto: Piratenspielplatz Amberg / Spielplatztreff.de

Die Straße als Spielraum – bei dem Verkehr?!

Früher hieß es immer nur: man muss die Kinder an den Verkehr anpassen, sie vor den Gefahren schützen und ihnen beibringen, mit den Zebrastreifen und den Autos kompetent umzugehen. Das ist nach wie vor wichtig, keine Frage. Aber inzwischen werden bessere Ansätze diskutiert: wie können wir den Verkehr an die Kinder anpassen? Auch unsere Studie hat gezeigt: Allein durch Verkehrsberuhigung lässt sich die Draußenspielzeit verdoppeln! Also lohnt es sich doch allemal, Formate zu entwickeln, die nicht Sicherheit auf Kosten der Mobilität zum Ziel haben, sondern Sicherheit und Mobilität miteinander verbinden.

Eine verkehrsberuhigte Umgebung steigert die Interaktionschancen jedenfalls deutlich – ein weiteres Merkmal für ein kinderfreundliches Umfeld. Denn wenn Kinder sich spontan mit anderen Kindern vor der Haustür, auf der Straße oder im Park treffen können, ist schon viel gewonnen. Auch für die Familien, denn attraktive Außenräume können sehr entlastend sein. Stellen Sie sich vor: Eltern, die nicht mehr für die Bewegungsangebote ihrer Kinder von A nach B fahren müssen. Einfach Tür auf und raus. Und der ewige Streit um die Mediennutzung nimmt auch ab, weil Kinder gemeinsam mit anderen Kindern viel mehr Zeit draußen verbringen.

Eine verkehrsberuhigte Straße kann Begegnungs- und Spielort für Kinder sein. Foto: Michael Gaida / pixabay

Tür auf und alle Kinder raus zum Spielen? Das klingt toll!

Absolut. Gelingt es, die Bedingungen im Wohnviertel so zu gestalten, dass die Eltern sich trauen, ihre Kinder wieder alleine vor die Haustür zu lassen, und die Kinder wieder Lust haben, auf Entdeckungstour durch ihr Viertel zu ziehen, werden sich auch wieder mehr Kinder spontan draußen treffen, miteinander spielen, aufeinander acht geben, sich gegenseitig helfen und wertvolle selbstständige Erfahrungen sammeln. Erfahrungen und Lernprozesse, die durch den vorgegebenen betreuten Rahmen einer Institution nur begrenzt möglich sind.


Wie viel Bewegung brauchen Kinder?
In Deutschland gibt es die Bewegungsempfehlungen von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Demnach sollten Kindergartenkinder (4-6 J.) eine Bewegungszeit von mindestens 180 min pro Tag erreichen. Das sind 3 Stunden. Grundschulkinder (6-11 J.) sollten sich möglichst 90 Minuten täglich bewegen. Die WHO empfiehlt für Kinder und Jugendliche im Schnitt mindestens 60 Minuten körperliche Aktivität pro Tag. Lt. KiGGS Studie erreichen lediglich 22 Prozent der Mädchen und 29 Prozent der Jungen im Alter von 3 bis 17 Jahren die Bewegungsempfehlungen der Weltgesundheitsorganisation.


Der Clou ist darüber hinaus: Schafft man Raumqualität für Kinder, steigt gleichzeitig die Wohnqualität und die Zufriedenheit aller Anwohner. Kontakte werden geknüpft, der nachbarschaftliche Zusammenhalt wächst, ebenso die Identifizierung mit dem Wohnquartier, der Vandalismus nimmt ab. Das geht weit über den eigentlichen Spielraum hinaus und kann für Städte und Kommunen zu einem wichtigen Standortvorteil werden.

Hat der klassische Spielplatz ausgedient?

So wie dieser Spielplatz in Bottrop sehen viele aus. Hier fehlt der Pepp! Foto: Spielplatztreff.de

Die Mehrzahl der Spielplätze ist heute tatsächlich immer noch traditionell ausgestattet und bietet nur wenige Anregungsmöglichkeiten. Vor allem Kindern ab etwa sechs, sieben Jahren wird es auf solchen Plätzen schnell langweilig. Sie klettern einmal hoch, rutschen wieder runter, schaukeln kurz und sind dann fertig. Kein Wunder, dass klassische Spielplätze oftmals verwaist sind. Auch dadurch wird diese Art des Spielraums übrigens  unattraktiv. Alleine spielen macht weniger Spaß!

Spielplätze sollten spannender und riskanter gestaltet werden. Dabei reicht es nicht aus, nur auf technische Sicherheit zu achten. Ein zu sicherer Spielplatz ist uninteressant. Die Spielexpertise gehört genauso dazu. Eine passende Balance zwischen Risiko und Sicherheit ist hierbei entscheidend. Es gibt genügend Beispiele für sehr gelungene anregende Spielplätze. Abgesehen davon müssen wir dafür sorgen, dass Kinder auch abseits von Spielplätzen wieder mehr attraktive Räume vorfinden. Gerade vor dem Hintergrund, dass durch die immer engere Bebauung stetig Frei- und Grünflächen verloren gehen, muss es das Ziel sein, auch durch die Form der Stadtarchitektur Qualitäten für den Außenraum zu entwickeln.

Wie gelingt es Städten, attraktivere Draußenspiel-Möglichkeiten für Kinder zu schaffen?

Ganz wichtig: Städte und Kommunen sollten endlich Wohnquartiere nicht mehr aus der Perspektive, den Erfahrungen und Wahrnehmungen der Erwachsenen gestalten, sondern die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen in den Fokus nehmen. Dafür ist der interdisziplinäre Gedanke ganz entscheidend. Das Thema sollte als Querschnittsthema Beachtung finden, so dass Grünflächenamt, Jugendamt, Spielraumplaner, Städteplaner, Architekten etc. an einem Strang ziehen. Die Kommunen brauchen eine klare politische Zielsetzung, Qualität für das Draußenspiel schaffen zu wollen. Dann lässt sich wirklich viel gestalten, verändern und entwickeln. Gerade auf der kommunalen Ebene hat man gute Möglichkeiten, wenn man will.

Ganz wichtig: Städte und Kommunen sollten endlich Wohnquartiere nicht mehr aus der Perspektive, den Erfahrungen und Wahrnehmungen der Erwachsenen gestalten, sondern die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen in den Fokus nehmen. Dafür ist der interdisziplinäre Gedanke ganz entscheidend. Das Thema sollte als Querschnittsthema Beachtung finden, so dass Grünflächenamt, Jugendamt, Spielraumplaner, Städteplaner, Architekten etc. an einem Strang ziehen. Die Kommunen brauchen eine klare politische Zielsetzung, Qualität für das Draußenspiel schaffen zu wollen. Dann lässt sich wirklich viel gestalten, verändern und entwickeln. Gerade auf der kommunalen Ebene hat man gute Möglichkeiten, wenn man will.


In Kopenhagen hat es der dänische Architekt, Städteplaner und Visionär Jan Gehl vorgemacht und die Stadt zu einer der kinder- und menschenfreundlichsten Städte in Europa entwickelt. In diesem Interview auf brandeins erfahrt ihr mehr über seinen spannenden Ansatz „Städte für Menschen“ zu planen.


Warum fällt es uns Erwachsene so schwer mit Kinderaugen zu sehen?

Wir Erwachsenen sind oftmals raumblind und verlieren mit den Jahren an Sensibilität. Wir vergessen, wie sehr Kinder von ihrem unmittelbaren Wohnumfeld und den dortigen Bedingungen abhängig sind. Wenn ich meine Freunde nicht erreichen kann, dann fahre ich mit dem Fahrrad, der Bahn oder dem Auto dorthin. Kinder können das nicht. Sie sind noch nicht mobil.

Außerdem nehmen Kinder ihren Lebensraum durch die geringere Körpergröße anders wahr als Erwachsene und sehen viele Dinge aus einem anderen Blickwinkel. Das ist uns oft nicht bewusst. Daher muss man ein bisschen die Sinne schärfen. Eine gute Idee dazu kommt aus der Stadt Basel. Sie hat einen Leitfaden „Auf Augenhöhe 1,20 m“ für ihre Verwaltung erstellt, als Handreichung für die kinderfreundliche Gestaltung eines Wohnquartiers.

Wichtig, um mehr Verständnis füreinander zu entwickeln und die Wahrnehmung zu ändern, ist es, Kinder und alle Anwohner mit ins Boot zu holen. Es geht nicht darum, unterschiedliche Interessen gegeneinander auszuspielen, sondern im Austausch miteinander Akzeptanz für die Bedürfnisse von Kindern zu schaffen und zu erkennen, dass wir alle davon profitieren, wenn Kinder draußen spielen können. Kinder haben zwar lt. UN-Kinderrechtskonvention das „Recht auf Spiel“. Einklagen können sie ihr Recht jedoch nicht. Deshalb brauchen sie uns Erwachsene als Fürsprecher.

Vielen Dank, Herr Prof. Dr. Höfflin, für das interessante Gespräch!