Das Motto des diesjährigen Weltkindertages am 20. September lautet: „Kinder brauchen Freiräume“. Warum Freiräume für Kinder so wichtig sind, aber nur schwer zu erkämpfen, darüber habe ich mit Claudia Neumann, Referentin für Spiel und Bewegung beim Deutschen Kinderhilfswerk, gesprochen. 

Frau Neumann, was ist der Weltkindertag: die größte Kinderparty Deutschlands oder eher ein enorm wichtiger politischer Tag?

Neumann: Ganz sicher beides. Die beiden größten Weltkindertagspartys in Deutschland finden in Berlin und Köln statt. Und ich bin mir sicher, dass die Kinder dort jede Menge Spaß haben und einen wunderbaren Tag erleben werden. Aber natürlich ist der Weltkindertag auch enorm wichtig, um immer wieder in der Öffentlichkeit darauf hinzuweisen, dass Kinder eigene Rechte haben und dass sie diese in vielerlei Hinsicht brauchen.

Zum Beispiel bräuchten Kinder mehr Freiräume. Wie sollten diese Freiräume aussehen?

Sehr vielfältig. Aus meiner Sicht als Referentin für Spiel und Bewegung brauchen Kinder unbedingt Freiräume, in denen sie sich austoben und frei spielen können. Kinder brauchen Platz zum Spielen. Da ist natürlich der Spielplatz ein wichtiger Spielraum.

Aber auch abseits von Spielplätzen benötigen Kinder Freiräume in ihrem unmittelbaren Wohnumfeld. Räume, in denen sie sich möglichst frei bewegen können. Kinder sollten in einer kinderfreundlichen Umgebung aufwachsen, in der sie eigenständig ihre Lieblingsorte aufsuchen, geheime Verstecke erkunden und ihre Freunde treffen können.

Wenn Kinder überhaupt noch die Zeit zum Spielen haben…

Da sprechen Sie einen wichtigen Punkt an. Denn auch den zeitlichen Aspekt nehmen wir in den Blick. Kinder brauchen unbedingt Zeit zum freien Spielen. Hier sind auch Eltern in der Pflicht. Sie müssen sich ehrlich fragen, ob der kindliche Terminkalender mit Musikschule, Sportverein und Nachhilfe nicht langsam voll genug ist – wo bleibt Zeit zum Treffen mit Freunden oder auch einfach mal für eine gepflegte Langeweile?

Auch im Hinblick auf die zunehmende Ganztagsbetreuung in Kita und Schule müssen wir genau hinschauen: Wo bleibt eigentlich die Zeit zum Spielen und wie sind die Spiel- und Bewegungsräume in den Institutionen gestaltet? Der Ganztag bestimmt zunehmend den Tagesrhythmus unserer Kinder und die Außengelände in Kitas und auf Schulhöfen sind für viele Jahre die zentralen Aufenthaltsorte. Hier gilt es besonders die Bedarfe der Kinder in den Blick zu nehmen.

Triste Pausenhöfe sind leider keine Seltenheit in Schulen. Foto: Gerardo Madeo / pixelio.de

Sollten wir die Kinder fragen?

Unbedingt. Deshalb ist es auch ganz wichtig, Kindern generell mehr Freiräume zur eigenen Mitbestimmung einzuräumen. Gerade bei der Neuplanung von Spielplätzen werden zunehmend Kinder und Jugendliche in die Entscheidungen mit eingebunden. Das dauert dann vielleicht länger und ist aufwändiger, die Qualität der Ergebnisse sowie die Akzeptanz und höhere Wertschätzung und der daraus resultierende pfleglichere Umgang mit dem fertigen Spielplatz, machen die Anfangsinvestitionen jedoch wieder wett.

Kinder sind, neben den Rentnern, diejenigen, die am meisten zu Fuß in der Stadt unterwegs sind und sich natürlich nicht nur auf Spielplätzen aufhalten. Deshalb sollten sie bei der Gestaltung ihres gesamten Wohnumfeldes mitwirken.

Claudia Neumann, DKHW

Aber wir sollten über die Spielflächen hinaus denken. Kinder sind, neben den Rentnern, diejenigen, die am meisten zu Fuß in der Stadt unterwegs sind und sich natürlich nicht nur auf Spielplätzen aufhalten. Deshalb sollten sie bei der Gestaltung ihres gesamten Wohnumfeldes mitwirken. Wenn wir Spielleitplanungen begleiten, beobachten wir das immer wieder: Kinder sind sehr an der Verkehrssituation, an Sauberkeit, Recht und Ordnung in ihrer Stadt interessiert. Sie können uns ein ziemlich genaues Bild davon zeichnen, wo sich Stolperfallen für den Vater oder die Mutter mit dem Kinderwagen oder für Oma und Opa mit dem Rollator befinden oder wo sie ihre Lieblingsecken haben bzw. Orte, an denen sie sich eher nicht so gerne aufhalten. Daraus können wir lernen, unseren Blick schärfen und Maßnahmen ableiten.

Spielplatzbeteiligung ist wichtig. Doch leider mangelt es häufig an der Qualität.

Man darf Kinder natürlich nicht einfach nur fragen, welche Spielgeräte sie gerne hätten, um sich in einer Alibi-Veranstaltung die eigenen Ideen abnicken zu lassen.

Claudia Neumann, DKHW

Sie haben Recht. Viele verstehen unter Beteiligung immer noch, dass sie die Kinder entscheiden lassen, ob es Spielgerät A oder B wird. Man darf Kinder natürlich nicht einfach nur fragen, welche Spielgeräte sie gerne hätten, um sich in einer Alibi-Veranstaltung die eigenen Ideen abnicken zu lassen. Als Erwachsener, der so einen Beteiligungsprozess anstößt, übernimmt man eine große Verantwortung. Deshalb braucht es für gelungene Kinder- und Jugendbeteiligungen qualifizierte Prozessmoderatoren, die dafür Sorge tragen, dass ein ernstgemeinter Partizipationsprozess stattfindet und mit geeigneten Methoden die Wünsche und Belange von Kindern und Jugendlichen erarbeitet werden.

Kinder- und Jugend-Beteiligung darf keine Alibi-Veranstaltung sein. Foto: STADTKINDER

Ob Kinder zu ihrem Recht kommen, hängt noch zu sehr vom Zufall ab. Deshalb wären flächendeckend gesetzliche Verpflichtungen so wichtig.

Claudia Neumann, DKHW

Es gibt durchaus einzelne Kommunen, die schon auf einem guten Weg sind, aber im Großen und Ganzen fehlen Prozessmechanismen und Standards, über die bei jedem Vorhaben geprüft wird: betrifft es die Belange der Kinder- und Jugendlichen und wird eine Beteiligung gemacht? In der Praxis hängt es hauptsächlich an einzelnen Personen, die darüber entscheiden, ob sie in einen Prozess eine Kinder- und Jugendbeteiligung mit einbauen oder nicht und in welcher Form. Und wenn es mit der Freiwilligkeit oder mit den engagierten Personen nicht klappt, passiert eben nichts. Ob Kinder zu ihrem Recht kommen, hängt noch zu sehr vom Zufall ab. Deshalb wären flächendeckend gesetzliche Verpflichtungen so wichtig.


Das Deutsche Kinderhilfswerk bildet selbst jährlich Prozessmoderatoren für Kinder- und Jugendbeteiligungsverfahren aus und bietet mit seiner Fachstelle Kinder- und Jugendbeteiligung Beratungsleistungen für Kommunen an. Außerdem können über die verschiedenen Förder- und Länderfonds des Deutschen Kinderhilfswerks  auch finanzielle Mittel für die Durchführung von Beteiligungsprojekten beantragt werden.


Die Rechte von Kindern sind doch in der UN Kinderrechtskonvention festgeschrieben. Warum reicht das nicht aus?

Wir haben tatsächlich immer noch das Problem, dass gar nicht alle wissen, dass es mit der UN Kinderrechtskonvention diese gesonderten Rechte für Kinder in Deutschland seit mehr als 25 Jahren (!) gibt. Dabei ist es geltendes Recht und die UN Kinderrechtskonvention besagt sogar, dass die Belange der Kinder und Jugendlichen Vorrangstellung haben. Das Recht auf Spiel beispielsweise ist in der Praxis jedoch kaum einklagbar und wird in den meisten Kommunen als freiwillige Leistung eingestuft. Somit gibt es keine Handhabe zu sagen: wir haben hier das Recht auf Spiel und das muss umgesetzt werden. Deshalb kämpft das DKHW seit Jahren, gemeinsam mit anderen Akteuren dafür, die Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern. Im Moment scheint es da auch voranzugehen. Denn die aktuelle Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag vereinbart, die Kinderrechte ins Grundgesetz aufzunehmen.

Was würde sich verbessern, wenn die Kinderrechte im Grundgesetz stünden?

Wir sind momentan in einer ständigen Rechtfertigungssituation, warum wir überhaupt gesonderte Rechte für Kinder brauchen.  Mit den Kinderrechten im Grundgesetz wären zwar nicht alle Probleme auf einmal gelöst, aber der rechtliche Rahmen wäre abgesteckt und klarere Verhältnisse würden uns die Arbeit erleichtern.

Der rechtliche Rahmen wäre abgesteckt (…) jede Kommune wäre verpflichtet, (…) ein gewisses Grundbudget in den Haushalt sowie qualifiziertes Personal einzustellen, um für diese Belange der Kinder angemessen sorgen zu können.

Claudia Neumann, DKHW

Um beim Thema Spielräume zu bleiben: jede Kommune wäre verpflichtet, einen Spielleitplan oder vergleichbare Konzepte zu erarbeiten und ein gewisses Grundbudget in den Haushalt sowie qualifiziertes Personal einzustellen, um für diese Belange der Kinder angemessen sorgen zu können. Es wäre dann nicht mehr so einfach, das Spielplatzprojekt um ein paar Jahre nach hinten zu schieben, weil das Verkehrsprojekt wieder mal höher priorisiert wurde. Auch die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen wäre dann rechtlich vorgeschrieben, und es wäre dann endlich selbstverständlich, Kinder als Teil der Öffentlichkeit mit Hilfe gesonderter, etablierter und getesteter Verfahren und qualifizierter Prozessmoderatoren nach ihren Sichtweisen und Bedürfnissen zu fragen. Das alles neu zu sortieren wäre eine Menge Arbeit für die nächsten Jahre. Aber es würde sich definitiv lohnen. Für unsere Kinder und für die Gesellschaft.

Vielen Dank, Claudia Neumann, für dieses Interview.

Titel-Foto: Kinder brauchen eine starke Stimme, um ihre Rechte nach mehr Frei- und Spielraum durchzusetzen ©Stephanie Hofschlaeger/pixelio.com