Wie klettert man auf hohe Mauern? Wie fasst man eine Brennnessel an? Wie läuft man über spitze Steine? Wer solche Dinge weiß, ist nicht nur auf dem Spielplatz ganz weit vorne mit dabei. Anke Leitzgen plädiert für mehr Risikofreude und hat in ihrem Mitmach-Mutmach-Buch 60 Mutproben und gefährliche Dinge mit Anleitung zusammengetragen, die Kinder mutiger machen. Wir verlosen drei Exemplare dieses tollen Buches und haben mit der Autorin gesprochen.

Frau Leitzgen, Sie sagen, Kinder sollen Dinge ausprobieren, bei denen Mut gefordert ist. Warum sind Mutproben so wichtig?

Anke Leitzgen: Weil sie erlauben, dass man die eigene Komfortzone verlässt. Und das ist wiederum wichtig, um zu wachsen, im Sinne von erwachsen zu werden. Wer nur in der eigenen Komfortzone bleibt, kann nicht wachsen. Wer als Kind nicht mutig sein darf, kann die ganzen Dinge nicht trainieren, die dazu gehören. Das umsichtige Abschätzen: „Kann ich das oder noch nicht?“ Das vorsichtige Ausprobieren: „Hält der Ast?“ Das sind ja Dinge, die man trainieren muss. Sonst ist die Gefahr groß, dass wenn man sich ein Herz fasst, man übermütig wird. Und das geht oft daneben.

Wie kamen Sie auf die Idee, dieses Mut-Buch zu schreiben?

Während wir an unserer Buchreihe „Forschen, Bauen, Staunen von A bis Z“ gearbeitet haben, diskutierte ich mit der Verlagsleiterin der Verlagsgruppe BELTZ darüber, wie gefährlich die Experimente sein dürfen. Sie meinte, dass ich mich bestimmt auf den ein oder anderen Leserbrief einstellen müsse. Tenor: „Wie kann man die Kinder so einer Gefahr aussetzen?“ Da musste ich lachen und habe gesagt: „Lasst uns doch mal ein richtig gefährliches Buch machen!“ Und sie war von dem Gedanken sofort überzeugt. Allerdings hat es sich mit den Ängsten der Eltern gar nicht bewahrheitet. Im Gegenteil! Viele schreiben von ihren wilden Kindheitserinnerungen und finden es wichtig, dass Kinder heute auch etwas riskieren dürfen.

Wie funktioniert Ihr Buch?

Es gibt zwei Teile: die echten Gefahren und die Mutproben. Insgesamt sind es 60 Aktionen, die Schritt für Schritt beschrieben werden. Weil aber für den einen babyleicht ist, was für den anderen eine totale Herausforderung bedeutet, gibt es Sticker, mit dem jeder in der Familie die einzelnen Gefahren bewerten kann.

Bäng! ist kein Kinderbuch, sondern ein Familienbuch. Es geht darum, zusammen etwas auszuprobieren. Gemeinsam Herausforderungen anzunehmen. Und dann stellt sich vielleicht raus, dass Mama die Spinne lässig in die Hand nimmt, Papa sich davor entschieden mehr fürchtet, aber dafür super Lagerfeuer machen kann. Oder dass die Kinder vom Fünfer springen, sich die Eltern das aber nicht trauen. Kurz: es geht nicht nur darum, Gefahren in einem geschützten Raum kennenzulernen, sondern auch als Familie kleine Abenteuer zu erleben, die Erinnerungen schaffen und zusammenschweißen.

Wie sprengt man eine Glasflasche? Wie bohrt man ein Loch? Wie verbringt man eine Nacht unter freiem Himmel? Wie gefährlich sind Kopfhörer im Straßenverkehr? Wie nimmt man eine Spinne in die Hand? Wie gesteht man die Wahrheit? – Was mir an Ihrem Buch besonders gut gefällt, ist die vielfältige Zusammenstellung der Mutproben. Wie wurden diese ausgewählt?

 

tinkerbrain / Anke M. Leitzgen / Gesine Grotrian, Bäng! 60 gefährliche Dinge, die mutig machen. © 2015 Beltz & Gelberg in der Verlagsgruppe Beltz, Weinheim Basel

Experiment: Wie sprengt man eine Glasflasche?

Wir haben uns vorgestellt, was alles typisch für so ein Kinderleben ist? Was sind bekannte Ängste? Wo drohen Verletzungsgefahren? Welche Statistiken gibt es bei Ärzten, Versicherungen und Feuerwehr? Damit konnten wir herausfinden, was Kinder unbedingt lernen sollten, um auf der sicheren Seite zu sein.

Denn uns geht es ja nicht darum, Kinder unnötigen Gefahren auszusetzen. Wir wollen sie stark machen und ihnen zeigen, wie man sich geschickt und aufmerksam in gefährlichen Situationen verhält. Damit man das lernt, muss man natürlich vorsichtig und bewusst etwas wagen.

Wenn man heute Eltern auf dem Spielplatz beobachtet, sind diese viel damit beschäftigt, ihre Kinder vor vermeintlichen Gefahren zu warnen: „Kletter nicht zu hoch!“, „Lauf nicht zu schnell!“, „Spring nicht zu wild, sonst fällst du runter.“ Ich denke mir dann oft, eine Portion Mut täte auch Eltern gut…

Stimmt. Aber das ist leichter gesagt als getan. Ich finde es gar nicht einfach, heute als Mutter oder Vater das Kind vertrauensvoll loszulassen. Einerseits bekommen wir ständig Informationen – ob gewollt oder nicht – darüber, was alles passieren kann. Und dann lebt man im ständigen Vergleich. Eine Gesellschaft, in der alle etwas gelassener aufs Kind schauen, wirkt ansteckend. Umgekehrt gilt das auch: Wenn beim Elternabend drei Eltern ausmalen, was an einem Wandertag alles schief gehen kann, fragen sich auch die anderen: „Hätte mir das auch einfallen sollen oder bin ich zu sorglos?“ Was wiederum bedeutet: Bin ich keine gute Mutter oder kein guter Vater für mein Kind?

Also ja, mehr Mut täte Eltern bei der Erziehung gut. Aber ich finde, man darf auch Verständnis dafür haben, wenn es schwer fällt. Damit es leichter wird, haben wir ja dieses Buch geschrieben. Denn wenn man erlebt, was das eigene Kind kann und wie umsichtig ist, fällt das Loslassen gleich leichter.

Sie sind selbst vierfache Mutter und bestimmt ziemlich mutig. Was raten Sie Eltern, denen es schwer fällt, ihre Kinder loszulassen und ihnen mehr zuzutrauen?

Ich habe immer mit Eltern älterer Kinder mit ähnlichem Temperament gesprochen. Denn man ist ja in alle Richtungen besorgt: Isst es zu wenig oder zu viel? Hängt es zu viel vorm Handy? Kann ich das Handy über Nacht einkassieren oder ist das ein Eingriff der zu weit geht? Können zwei Zehnjährige alleine im Garten zelten? Kann der Sechsjährige zu Fuß zum Freund, obwohl er auf dem Weg eine Straße mit Fußgängerampel überqueren muss? Bei schwierigen Entscheidungen haben mir die Erfahrungen der anderen Eltern immer sehr geholfen.

Und einen Tipp finde ich immer wieder großartig. Den habe ich von dem Schriftsteller Peter Høeg bekommen. Als seine Tochter allein zur Schule gehen wollte, war ihm das zu gefährlich. Und er hat zu ihr gesagt: „Ich glaube, dass du das schaffst. Aber ich bin noch nicht so weit, gib mir noch ein bisschen Zeit.“ Das finde ich so schön, weil es zeigt, dass man dem Kind nicht misstraut, sondern selbst noch den Mut finden muss. Und dann ist eine Annäherung durch einen Kompromiss ein schöner erster Schritt.

Vielen Dank, Anke Leitzgen, für das wunderbare Buch und das interessante Interview.

Für alle, die neugierig geworden sind, können das Buch „BÄNG! 60 Dinge, die Mut machen“ (tinkerbrain / Anke M. Leitzgen / Gesine Grotrian © 2015 Beltz & Gelberg in der Verlagsgruppe Beltz, Weinheim Basel) auch direkt online bestellen.