Hand auf’s Herz, wer von euch hat schon mal mit diesem Satz, den Spielplatz-Besuch beendet? Eltern- und Familienberaterin Katia Saalfrank erklärt, warum wir unsere Kinder lieber nicht mit „wenn-dann-Sätzen“ erpressen sollten und warum es wichtig ist, unsere Kinder besser zu verstehen.

Frau Saalfrank, täglich verstricken wir Eltern uns in Machtkämpfe mit unseren Kindern, obwohl wir sie lieben. Warum tun wir das?

Katia Saalfrank: Eltern kommen zu mir, weil sie merken, dass ihre Beziehung zu Kindern belastet ist. Häufig haben wir nicht viel Zeit im Alltag und wollen aufkommende Konflikte möglichst schnell lösen. Wir haben vorher vielleicht noch versucht, die Situation über Erklärungen zu lösen. Doch die Einsicht, dass es „vernünftig“ ist, jetzt den Spielplatz zu verlassen, weil wir – aus Erwachsenensicht – vielleicht schon lange genug dort waren und es für unsere Planungen sonst zu spät wird, will sich bei unserem Kind nicht einstellen. Da wir uns nicht gehört und verstanden fühlen, werden wir sauer und uns „platzt der Kragen“. Wir reagieren häufig emotionaler als wir wollen und – ebenso wie die Kinder – mit Wut.

In solchen emotionalen Stress-Momenten rutschen wir oft unbewusst in alte selbsterlebte Muster hinein, nutzen unsere elterliche Macht aus und greifen auf Erpressungen, Drohungen oder andere abwertende Mechanismen zurück und wiederholen damit etwas, was wir selbst erfahren haben. Mir ist wichtig, dass Eltern sich über diese Zusammenhänge bewusst sind.

Was bedeuten die elterlichen Erpressungsversuche für Kinder?

Ich möchte es mal versachlichen: Eigentlich sind „wenn-dann-Sätze“ juristisch gesehen schlicht eine Nötigung. Wir setzen damit unsere Kinder massiv unter Druck und erpressen sie emotional. In Ihrem oben genannten Beispiel wird, in der Hoffnung, dass das Kind sich an ein von den Eltern gewolltes Verhalten anpasst, mit Liebesentzug bzw. Entzug der Zuwendung gedroht. Kinder sind jedoch von Liebe und Zuwendung ihrer Bezugs- und Bindungspersonen abhängig und deshalb leicht über diese Mechanismen zur Anpassung zu bringen.

Wie können es Eltern besser machen?

Eltern sollten das Verhalten ihrer Kinder nicht als „gut“ oder „schlecht“ oder „richtig“ oder „falsch“ bewerten bzw. abwerten und dieses dann mit elterlicher Macht abzustellen versuchen. Vielmehr sollten Eltern lernen, das Verhalten ihrer Kinder als wertvolle Signale zu erkennen. Sie sollten begreifen, wie wichtig es ist, die dahinter liegenden Gefühle und Bedürfnisse zu verstehen. Aus der Säuglings- und Bindungsforschung liegen viele gesicherte Erkenntnisse vor, welch große Bedeutung der Aufbau einer sicheren Bindung für das gesunde Aufwachsen von Menschen hat. Es ist mir ein Rätsel, weshalb diese Bindungsaspekte und das Wissen über die Wirkung von sicherer Bindung für das gesunde Aufwachsen von Kindern nicht längst viel selbstverständlicher in unserer Gesellschaft Einzug gefunden hat. Es kommt darauf an, dass es Eltern gelingt, eine verlässliche (Ver-)Bindung zu ihrem Kind herzustellen und durch ein konstruktives und wertschätzendes Miteinander die Beziehung zu festigen. Hier dürfen wir anknüpfen.

Wie kann es Eltern gelingen, die Bindung zu ihrem Kind herzustellen?

Ich habe über all die Jahre für mich eine Form der bindungs- und beziehungsorientierten Pädagogik entwickelt, in der es im Kern darum geht, das Verhalten von Kindern zunächst einmal zu verstehen. Erst dann lassen sich gemeinsam mit den Eltern neue wertschätzende und konstruktive Antworten auf der emotionalen Beziehungsebene entwickeln. Erst wenn wir das Verhalten von Kindern auf der emotionalen Bedürfnisebene verstehen, können wir auf der emotionalen Ebene darauf adäquat reagieren und konstruktive Antworten finden.

In der Beratung schauen wir uns ganz konkret die Beziehung zwischen Eltern und Kindern an und finden gemeinsam heraus, in welchen Situationen Eltern in den „Kampfmodus“ schalten und wann ihre Kinder aufhören zu kooperieren. Kinder sind nämlich grundsätzlich Teamworker. Sie kooperieren häufig den ganzen Tag. Häufig sogar sind sie stark in der Überkooperation. Und wir nehmen es oft nicht mal wahr.

Katia Saalfrank ist Diplom-Pädagogin und Musiktherapeutin. Sie arbeitet als Eltern- und Familienberaterin in eigener Praxis, berät und begleitet Eltern – durch die Möglichkeit der Skype-Beratung auch bundesweit und im deutschsprachigen Ausland, führt Personal Coachings zum Schwerpunkt Kommunikation und Emotion durch und ist in der Supervision von LehrerInnen und ErzieherInnen tätig.  In ihren Aus- und Weiterbildungen gibt Katia Saalfrank ihre eigene bindungs- und beziehungsorientierte Pädagogik (buboks) an Eltern und Fachleute weiter.

Wenn Kinder nicht mehr kooperieren, eskaliert es?

Schauen wir doch mal genauer hin: Die Tagesabläufe vieler Kinder sind eng getaktet. Schon kleine Kinder müssen oft um halb acht aus dem Haus und kommen abends um halb fünf wieder. Sie stellen ihr Bedürfnis nach Ruhe, Erholung und Verbindung mit den Eltern oft über Stunden zurück. Sie haben Mutter und Vater sehr wenig am Tag gesehen – manchmal zu wenig, um ihren „emotionalen Hunger“ zu stillen und ihre Bedürfnisspeicher aufzufüllen. Und irgendwann geht es dann einfach nicht mehr.

Man muss wissen: Kinder tun nie etwas gegen Erwachsene, sondern immer etwas für sich. So steigen Kinder dann aus der Kooperation aus und verweigern sich und reagieren dann auf eine, aus unserer Sicht, Kleinigkeit, mit einem heftigen Wutanfall. Nicht, weil sie nicht mehr kooperieren wollen, sondern weil sie nicht mehr können. Wenn dann noch Kränkungen dazu kommen und Eltern Druck machen z.B. „wenn-du-nicht-dann“, ist es ganz aus und das Drama am Abend perfekt.

Inwiefern nehmen unsere Erfahrungen aus der eigenen Kindheit Einfluss?

Auch die frühe selbsterfahrene Kränkung von Eltern spielt eine Rolle. Wir müssen lernen zu verstehen: Gerade wenn wir unter Stress geraten, werden eigene frühe Bindungs- und Beziehungsmuster aktiviert, Situationen, in denen wir uns als Kind selbst klein und hilflos gefühlt haben, sind plötzlich emotional wieder aktuell. Dieses schlechte Gefühl nimmt dann in Situationen mit unseren Kindern Überhand und führt dazu, dass ein Erwachsener jemanden, der sowieso viel kleiner ist, strafen oder abwerten muss. Wichtig ist, sich zu sortieren: Was ist meine eigene Geschichte? Und was ist heute meine elterliche, erwachsene Verantwortung für mein Kind?

Indem Eltern den Perspektivwechsel vollziehen und die Sicht ihres Kindes und das, was in ihm vorgeht ernst nehmen und besser verstehen, wird es für alle leichter. Der Kampf hört auf. Dadurch können Eltern offen bleiben für das, was ihr Kind gerade in der Überforderung und Verzweiflung braucht. Eltern hören auf, Dinge persönlich gegen sich selbst gerichtet zu nehmen und es gelingt ihnen eher, ihre Empörung und Wut über das Verhalten des Kindes zur Seite zu stellen. Sie müssen ihr Kind nicht mehr „beherrschen“ oder ihm machtvoll zeigen, „wo der Hase lang läuft“. Es gelingt ihnen besser sich selbst zu positionieren und sich in seinen Grenzen zu zeigen und dabei gleichzeitig die Grenzen ihres Kindes auch zu wahren. Und das ist wichtig. Denn wie sollen Kinder selbstständige, empathische und wertschätzende Menschen werden, die Grenzen von anderen achten und wahren, wenn wir ihre eigenen Grenzen in Konfliktsituationen ständig übertreten werden?

Buchtipp:
Denkanstöße, wie euer Familienalltag mit mehr Wertschätzung und weniger Strafen gelingen kann, findet ihr im Buch von Katia Saalfrank „Kindheit ohne Strafen“*. Erschienen 2017 im BELTZ Verlag. Ich war sehr angetan von der einfühlsamen Grundhaltung, die Katia Saalfrank vermittelt. Zahlreiche Beispiele aus ihrer Beratungsarbeit mit Eltern veranschaulichen die neuen Handlungsalternativen. Vieles davon lässt sich direkt im Alltag umsetzen und zeigt sofort Wirkung, anderes braucht aber auch etwas Zeit und Geduld.

Sollten Eltern nicht Grenzen setzen?

Da hole ich noch mal etwas aus. Alle Menschen haben Grenzen: emotionale, soziale und seelische. Kinder brauchen ihre Grenzen genauso, wie Erwachsene. Sie fungieren quasi als persönlicher Schutzraum. Deshalb ist es so wichtig, dass wir die Grenzen von Kindern wahren, damit Kinder ihren eigenen, persönlichen Raum auch entwickeln, halten und schützen lernen.

Was Kinder aus meiner Sicht nicht brauchen, sind von außen gesetzte Grenzen. Denn es geht nicht darum, dass wir Kinder „eingrenzen“, indem wir Wände aus elterlichen Verboten bauen oder Zäune aus Maßregelungen flechten. Die Frage lautet deshalb auch nicht: Wie können wir Kindern Grenzen setzen, sondern muss umgekehrt lauten: Wie können Eltern mit ihren eigenen Grenzen sichtbar werden, damit Kinder auch ihre eigenen Grenzen erfahren? Dafür müssen wir Erwachsenen uns unserer eigenen Grenzen bewusst werden. Wo stehen wir, was wollen wir, wo ist unser persönlicher Raum? Erst können wir unsere Grenzen gegenüber anderen und unseren Kindern auch vertreten.

Kinder erleben Grenzen dann dadurch, dass sich ihre Eltern positionieren. So erfahren sie: Der andere hat da eine Grenze! Und weiter: Auch ich habe also Grenzen und darf diese deutlich machen. Menschen und ihre persönlichen Grenzen werden für andere auch durch das Äußern ihrer Gedanken und dem zeigen ihrer eigenen Emotionen sichtbar.

Ein wichtiger Schlüssel für mehr Verständnis ist also die Gefühlswelt?

Ja, ohne Gefühle geht es nicht. Unsere Handlungen sind durch Emotionen motiviert. Daher ist es wesentlich, sich über die Gefühle des Kindes und über die eigenen Gefühle im Klaren zu sein, einen Zugang zu haben, Emotionen regulieren zu können und einen angemessenen Ausdruck zu entwickeln. Leider haben Eltern häufig selbst nicht viel Erfahrung mit ihren eigenen Gefühlen, und so ist es für sie manchmal gar nicht leicht, die Gefühlswelt ihrer Kinder zu verstehen, geschweige denn diese Gefühle zu co-regulieren. Um den Umgang mit Gefühlen zu lernen sind fünf Schritte in der emotionalen Entwicklung von Kindern wesentlich: Gefühle wahrnehmen, Gefühle erkennen, Gefühle benennen, Gefühle regulieren (und kontrollieren) und Gefühle selbst beeinflussen.

Ziel der emotionalen Entwicklung ist einen guten Zugang zu den eigenen Gefühlen zu entwickeln. Voraussetzung hierfür ist eine Bewusstheit über die Emotionen zu erlangen, indem die eigenen Gefühle zunächst wahrgenommen, erkannt und in einem weiteren Schritt dann auch benannt werden und so über einen langen Prozess hinweg in die Persönlichkeit integriert werden können. Nur wenn das gelingt, können die eigenen Gefühle dann auch reguliert und ein guter und konstruktiver Umgang mit eigenen Gefühlen gefunden werden. Wenn Verknüpfungen hergestellt werden können zwischen den unter den Gefühlen liegenden Bedürfnissen und dem Gefühl, welches entsteht, kann es möglich werden, die eigenen Gefühle zu beeinflussen.

Was können Eltern in einer akuten Stresssituation tun?

In Stresssituationen ist es besonders schwer. Es geht dann darum, alles ganz bewusst zu entschleunigen und ein Stopp zwischen Reiz und Reaktion zu setzen. Hier gilt es auf sich und seine körperlichen Reaktionen zu achten, um schnell ablaufende Muster auf Dauer zu verlangsamen und nicht in die emotionale Rutsche, das Schreien und die eigene oft sehr schnell ablaufende Wutspirale zu geraten. Es gibt immer einen Punkt, an dem man sich und das Abgleiten in die üblichen Verhaltensmuster stoppen kann. Den gilt es zu finden. Das braucht ein wenig Übung und Geduld mit sich selbst.

Eine Notfallstrategie kann sein, sich Zeit für ein paar ruhige Atemzüge zu nehmen, um vom Gas zur Bremse und raus aus den schnellen, automatisierten körperlichen Abläufen zu kommen. Im Ernstfall hilft es auch, aus der Situation rauszugehen bzw. den Raum für kurze Zeit und ein paar Atemzüge zu verlassen. Das ist besser als das Kind wegzuschicken, es zu strafen oder es anzuschreien.

Wie können Eltern langfristig die Beziehung zu ihrem Kind verbessern?

Wenn man für sich entschieden hat: Ich möchte es anders machen. Dann sollte jedem klar sein: Ohne sich seiner eigenen Gefühle bewusst zu werden, kann man sein Verhalten nur schwer ändern. In meiner Praxis fließen bei Eltern häufig Tränen und die Verbindung zu den eigenen Emotionen wird deutlich. Es geht um Scham, um Schuld, auch um Wut, Trauer und Schmerz und um Einfühlung zu sich selbst und den Kindern. Es geht darum, was Eltern selbst als Kinder erlebt haben. Es geht um eigene Gefühle, um persönliche Standpunkte und um das eigene Wertesystem.

Geduld mit sich selbst und den Kindern ist dabei wesentlich – denn all das klappt nicht von heute auf morgen.

Katia Saalfrank

Nur wenn Eltern diese Zusammenhänge herstellen können, kann Empathie und Einfühlungsvermögen für sich selbst und auch für das Kind entstehen und sich elterliches Verhalten langfristig ändern. Geduld mit sich selbst und den Kindern ist dabei wesentlich – denn all das klappt nicht von heute auf morgen. An der Beziehung zu seinen Kindern zu arbeiten klingt zwar nach „Arbeit“, bedeutet immer vor allem die Chance zum eigenen Wachstum und Entwicklung und ist wirklich lohnenswert.

Ich spreche ja nicht von Regeln und Gesetzen in der Familie und doch, wenn man so will: Ein Familiengrundsatz erscheint mir ganz wichtig: Allen in der Familie darf es gut gehen – und zwar so gut wie möglich. Wenn es einem von uns nicht gut geht, sind alle bereit zu sprechen, wir hören uns gegenseitig zu, und fragen: Was können wir tun? Davor ist wichtig zu hören: Wie geht es uns gerade miteinander, was fühlt jeder? Der Dialog miteinander: Das ist der eigentlich wertvollste Teil und das Herzstück von Familie.

Vielen Dank, Katia Saalfrank, für diese wertvollen Erkenntnisse. Wie gelingt es euch, Konflikte zu meistern? Schreibt es in die Kommentare und gewinnt mit etwas Glück ein Buch-Exemplar (Aktion beendet).

Der mit Sternchen (*) gekennzeichnete Link ist ein Affiliate-Link. Wenn du über diesen Link einkaufst, bekommen wir von dem betreffenden Online-Shop / Anbieter eine Provision. Für dich verändert sich der Preis nicht.

Titel-Foto: Wie reagieren Eltern am besten auf einen Wutanfall? ©Michael Neupert / pixelio.de


Das könnte dich auch interessieren:

WER DRAUSSEN SPIELT, STREITET WENIGER – Interview mit Erziehungsexpertin und Autorin Nicola Schmidt

SPIELPLATZKONFLIKTE FRIEDLICH UND BINDUNGSORIENTIERT LÖSEN – TEIL 1 – Diplompädagogin und Autorin Inke Hummel im Interview