Ich habe mich mit Schauspielerin Sandra Borgmann (Tatort) über die Stärken des Spiels unterhalten und darüber, welche Spielerfahrungen in der eigenen Kindheit prägend für sie waren. 

Frau Borgmann, leben heute in Hamburg, sind aber in Mülheim an der Ruhr geboren und aufgewachsen. Wo haben Sie dort als Kind gespielt?

Borgmann: Das Haus, in dem ich groß geworden bin, beheimatete knapp 20 Parteien, darunter viele Familien. Wir Kinder waren eng befreundet und spielten unerlässlich miteinander. Hinter dem Haus gab es
zwei große Rasenflächen, viele Büsche, Bäume, Gestrüpp, auch einen Sandkasten, Reckstangen und Schaukeln, mit denen man bis in die Pappeln schaukeln konnte (zumindest fast… aber wir versuchten es trotzdem immer wieder). Es gab einen großen Garagenhof mit einer langen Zufahrt, die einen Berg runter führte. Im großen dunklen Keller des Hauses befand sich ein „Hobbyraum“ mit Tischtennisplatte und – tatsächlich – ein Schwimmbad. Wir kannten dort jeden Winkel, hatten unsere Höhlen und Verstecke und erfanden ohne Unterlass Geschichten und Spiele.

Klingt nach einem großen Spielparadies und weit und breit keine Erwachsenen…

Genau. Das Haus und vor allem das Areal darum war ein riesiger geschützter Spielraum, in dem man uns uns selbst überlassen hat. Ich erinnere mich nicht, dass uns ständig ein Erwachsener dazwischen gefunkt hätte. Und das war gut so. Wir waren
unterschiedlichen Alters und brachten uns gegenseitig Rollschuhfahren bei, Stelzenlaufen, Fahrradfahren, Federballspielen. Wir testeten Stinkbomben. Wir machten alles. Natürlich schossen wir die Bälle gegen die Garagentore und natürlich kletterten wir auf das Garagendach. Natürlich bretterten wir in Höchstgeschwindigkeit den Berg runter und bekamen ab und an die Kurve nicht. Wenn wir uns verletzten, holten wir uns ein Pflaster und spielten dann weiter. Wir testeten alle möglichen Beeren und Blätter, irgendeiner wusste immer, was giftig war. Wir hatten ein riesiges Areal zur Verfügung, in dem wir spielen konnten ohne irgend eine Aufsichtsperson in der Nähe. Das war unser Raum, und darin wurden wir in Ruhe gelassen. Nur wenn es Zeit war, zum Essen zu kommen, öffneten die Mütter die Fenster und riefen uns rein.

Heute wachsen Kinder eher behütet auf und haben es schwerer, sich ohne Aufsicht von Eltern oder Betreuungspersonen im Spiel auszutesten. Wie viel Freiraum lassen Sie als Mutter Ihrem 7-jährigen Sohn?

Gerade jetzt zum Beispiel ist er mit einer 5-jährigen Freundin, einer Picknickdecke, zwei Dosen Proviant und 10 Wasserbomben im Park. Beide Kinder haben meine Telefonnummer mit Filzer auf den Arm geschrieben. Als er das letzte (und erste) Mal mit einem Kumpel alleine dort war, fand ich mich im 10-Minuten-Takt am Fenster wieder, um die Kinder zu orten; jetzt sitze ich entspannt in der Küche und beantworte Ihre Interview-Fragen. Eine deutliche Besserung würde ich sagen. Da hat mich mein Sohn gut erzogen 🙂

Sie haben mir erzählt, Ihr Sohn und Sie sind große Fans vom Bauspielplatz in Eppendorf. Was macht dieses Spielangebot so besonders?

Der Baui Eppendorf ist so ein anarchischer 80er-Jahre-Platz. Ein ziemlich großes Areal inklusive Tiergehege plus einem kleinen Haus mit Spielräumen. Die Kinder werden in Ruhe gelassen und übernehmen Mitverantwortung für das Gelände. 5-Jährige leihen sich dort Werkzeugkisten aus und marschieren mit echten Hämmern, Sägen und Nägeln bewaffnet auf den Platz und in die Sperrholzbauten und bauen da weiter. Die klettern in sieben Metern Höhe von einem Holzhaus auf den nächsten Holzsteg und hauen sich Splitter in die Hände.

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Selbst gebautes Piratenschiff auf dem Baui in Eppendorf. Foto: Baui Eppendorf

Sie können einen Go-Kart-Führerschein machen und dann im Eppendorfer Park rum düsen. Sie können in einem uneingezäunten Bereich Fußball spielen und auf allen möglichen Fahrgeräten mit und ohne Anhänger durch die Gegend kurven und damit Holz, Steine, Tierfutter und kleine Geschwister transportieren. Sie können vom Lagerfeuerbereich die kalte Kohle nehmen und als Stift benutzen. Sie können Stockbrot über dem Feuer backen.

Der Baui bietet verschiedene Kurse an wie z.B. Töpfern, und es werden Reisen organisiert. Manche Kinder gehen nach der Schule dorthin und spielen dort so lange, bis ihre Eltern von der Arbeit kommen. Das Spielalter reicht von 0-15 Jahren. Übliche Spielplatz-Geräte gibt es dort nicht. Der Boden besteht aus Erde und Laub der Bäume. Je nach Wetterlage muss man sein Kind nach dem Baui-Besuch eine halbe Stunde in heißem Wasser einweichen. Das alles ist sehr unüblich für einen Spielplatz. Der besondere Spirit gefällt mir. Der Platz formt sich nach den Bedürfnissen der Kinder, nicht der der Erwachsenen. Wahrscheinlich wäre der Baui Eppendorf als Unterrichtsort gerade für Jungs ein geeigneterer Ort als die Schule.

Das Thema „Spielen“ scheint Ihnen am Herzen zu liegen. Denn obwohl Sie viel beschäftigt sind, engagieren Sie sich als „Botschafterin der Spielplatzpaten im ABA Fachverband in NRW“. Wie kam es dazu?

Meine ehemalige Kindergärtnerin Elfriede Majer, Sprecherin der Spielplatzpaten im ABA Fachverband in NRW, kontaktierte mich diesbezüglich, und da habe ich mich natürlich sehr gefreut. Die meisten Kinder haben weder Wiese noch Wald hinterm Haus. Und deshalb sind die Spielplätze in den Städten vielleicht das einzige Territorium, an dem sich die Kinder – zumindest theoretisch – so bewegen und so lernen dürfen, wie sie wollen und dabei nicht gestört werden. Und die Menschen, die diese letzten Freiräume der Kinder hüten und gestalten, verdienen meiner Meinung nach den größten Respekt. Sie dabei mit meinem Namen zu unterstützen, wenn ich kann, finde ich eine gute Sache.

Versuchen wir unsere Kinder heute zu stark zu lenken?

Ja, würde ich schon sagen. Sehen Sie, Hamburg ist neben Berlin die Stadt mit den meisten Singles (50% der Einwohner) und deutschlandweit den meisten kinderlosen Frauen über 40. Dass es die Familien sind, die diese Gesellschaft zusammen halten, scheint den meisten nicht mehr bewusst. Die Akzeptanz gegenüber dem Kindsein an sich und dem, was Eltern leisten, ist im Alltag erschreckend niedrig. Hamburger Schulen bestehen – vollkommen gesetzeswidrig – oft schon in der Vorschulzeit darauf, dass die Kinder verpflichtend ganztags kommen und nur mit Sondergenehmigung der täglichen 7-8-stündigen Fremdbetreuung fern bleiben können; so sollen Kinder und Eltern die Schulpflicht „üben“. Die freie außerinstitutionelle Zeit der Kinder besteht in vielen Lebenswelten sehr früh nur noch aus Frühstücken, Hausaufgaben machen, Abendessen und Schlafen. Diese frühe Konditionierung von Spaltung zwischen Institution und Familie, zwischen Lernen und Spielen, institutionellem Lernen und Leben hilft Kindern nicht dabei selbstständig und unabhängig zu werden und ihr Leben später mit Blick aufs Ganze zu gestalten.

Wie sehr, denken Sie, überwinden Kinder im Spiel ihre Grenzen?

Ich habe mich nie mit dem theoretischen Wissen übers Kinderspiel beschäftigt, da können andere deutlich mehr zu sagen. Mein persönlicher Eindruck war immer, dass im Spiel das Leben geformt wird – abgebildet auf der einen Seite und gestaltet auf der anderen. Und dass das Wachsen, das Körperliche wie das Geistige und Seelische, sich im Spiel nicht nur spiegelt, sondern durch das Spiel überhaupt passiert. Das Über-sich-hinaus-wachsen und beständig die eigenen Grenzen erweitern. Die Kinder finden im Spiel Lösungen für schier unlösbare Konflikte und begeben sich in alle möglichen Welten. Die Grenze zwischen innerer und äußerer Wirklichkeit fließt ineinander und beide Realitäten beeinflussen sich gegenseitig. Das ist eine der Grenzen, die die Kinder überwinden im Spiel: die Grenze zwischen Außen und Innen. Die Hürde, die zu überwinden uns im Erwachsenen-Alter oft so schwer fällt.

Worum geht es im Spiel von Schauspielern?

Das, was wir Schauspieler unter anderem sichtbar machen, ist das, was in den Menschen und zwischen ihnen stattfindet und wie das wiederum auf diese Menschen und ihr System wirkt. Im Spiel geht es immer um Beziehungen, um Bindungen und Visionen. Das ist das, was abgebildet wird, wie auch im Kinderspiel.

Und das Tolle dabei ist, dass das, was erzählt wird, immer nur eine Möglichkeit ist von Millionen von Alternativen. Es werden Entscheidungen getroffen, wie diese Geschichte und diese oder jene Figur erzählt wird, aber sie könnte genauso gut an allen Punkten andere Wege einschlagen.

Eine Geschichte / ein Spiel wird umso spannender, je mehr Überraschungen es darin gibt – für den Zuschauer, aber auch im Zusammenspiel für die Akteure selbst. Das ist vielleicht die größte Grenze, die man im Spiel und überhaupt im Erzählen von Geschichten überwinden kann: die Grenzen der eigenen Vorstellung. Und wenn’s gut läuft, erfahren alle Seiten etwas über das, was Freiheit sein kann.

Vielen Dank, Frau Borgmann, für das spannende Gespräch!