Kinder, die in ihrer Freizeit unbeaufsichtigt durch die Natur streifen, Höhlen bauen, auf Bäume klettern, in Bachläufen waten oder Frösche fangen, kommen oft nur noch in Büchern vor. In Berlin versucht man herauszufinden, inwiefern Naturerfahrungsräume dazu beitragen können, Großstadtkindern die Natur wieder näher zu bringen. Das wollten wir genauer wissen.

Frau Stopka, Sie haben das Projekt „Naturerfahrungsräume in Großstädten am Beispiel Berlin“ geleitet. Was war das Ziel?

Stopka: Der Tagesablauf von Kindern ist heute – oft aus Angst vor verpassten Bildungschancen – überwiegend reglementiert und durchgeplant. Es fehlt die Zeit für freies Spiel und es fehlt besonders in Großstädten an geeigneten Flächen, wo Kinder unberührter Natur begegnen können. Mit dem Projekt „Naturerfahrungsräume in Großstädten am Beispiel Berlin“, gefördert durch das Bundesamt für Naturschutz mit Mitteln des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, haben wir untersucht, unter welchen Bedingungen, sich mehr Naturerfahrungräume in Großstädten einrichten ließen.


Irma Stopka

Irma Stopka, Dipl.-Ing. Landschaftsplanerin, hat das im Februar 2012 abgeschlossene Projekt „Naturerfahrungsräume in Großstädten am Beispiel Berlin“ geleitet. Hier geht’s zum Abschlussbericht zur Voruntersuchung für das Erprobungs- und Entwicklungsvorhaben „Naturerfahrungsräume in Großstädten am Beispiel Berlin“.


Was sind Naturerfahrungsräume?

Naturerfahrungsräumen (NERäume) zeichnen sich durch ihre sichtbare Naturnähe und damit auch Wandelbarkeit (wie auf Brachflächen üblich) aus. Es gibt also keine Spielgeräte wie auf herkömmlichen Spielplätzen, sondern die natürlichen Elemente wie Wasser und Boden (Lehm, Sand, Oberboden), der Bewuchs selbst und die darin vorkommenden Lebensräume mit allen Pflanzen und Tieren, stellen die wesentlichen Elemente dar, die zum Spielen, zum Bewegen und zum Beobachten, aber auch zum gemeinsamen Erleben anregen sollen. Häufig weisen solche Räume größere Erdhügel, teilweise aus unterschiedlichen Bodensubstraten auf, weil – wie wir alle wissen – gerade das Rutschen, Matschen und Modellieren hier besonders viel Spaß macht und die Fantasie anregt.


Dr. Hans-Joachim Schemel, Sprecher des Arbeitskreises Städtische Naturerfahrungsräume, definierte den NERaum in „Kinder und Natur in der Stadt“ (2008, S. 79ff.) wie folgt: „Ein städtischer Naturerfahrungsraum … ist eine weitgehend ihrer natürlichen Entwicklung überlassene, mindestens ein Hektar große ‚wilde’ Fläche im Wohnumfeld, auf der Kinder und Jugendliche frei, ohne pädagogische Betreuung und ohne Geräte spielen können. Mindestens die Hälfte der Fläche des NERaumes entwickelt sich ohne menschliche Eingriffe, die anderen Teilräume können durch extensive Pflege offen gehalten werden.“ Mehr Infos zum Arbeitskreis.


Inwiefern unterscheidet sich das Spiel auf konventionellen Spielplätzen vom Spiel in der freien Natur?

Kinder in Naturerfahrungsräumen spielen erheblich häufiger gemeinsam mit anderen Kindern, als Kinder auf herkömmlichen Spielplätzen. Sie spielen wesentlich häufiger komplexe oder sogar hochkomplexe Spiele, sie bleiben „länger bei der Sache“ und lassen sich nicht ablenken. Kinder in Naturerfahrungsräumen sind generell interessierter an ihrer Umgebung und besitzen Grundkenntnisse und Interesse an Tieren und Pflanzen. Sie sind in der Lage selbst Dinge anzufertigen und sich ihre Umgebung zu gestalten und Kinder, die in Naturerfahrungsräumen spielen, können ausführlicher, begeisterter und komplexer von ihren Tätigkeiten berichten. Zu diesem Ergebnis kam eine mehrjährige Beobachtungsstudie in Süddeutschland, die in fünf Städten das Spiel von Kindern in Naturerfahrungsräumen mit dem Spiel auf konventionellen Spielplätzen verglichen hat (Reidl / Schemel / Blinkert, 2005: Naturerfahrungsräume im besiedelten Bereich. Ergebnisse eines interdisziplinären Forschungsprojekts).

Was lernen Kinder in der freien Natur besonders gut?

Ich möchte zunächst noch einmal sagen, dass ich Naturerfahrungsräume nicht als Konkurrenzangebot zu herkömmlichen Spielplätzen sehe, da auch diese ihre vollständige Berechtigung besitzen. Beide Angebote können sich im Idealfall gut ergänzen.

Wofür Naturerfahrungsräume besonders gut geeignet sind, ist das Erlernen von Eigenständigkeit und Risikokompetenz. Fallen lernt man eben nur durch Fallen. Wenn Kinder frühzeitig daran gewöhnt werden, ihre Umwelt selbst zu erkunden und die eigenen Fähigkeiten (ohne Druck) auszuprobieren, so werden sie gewiss schneller eine eigene Risikokompetenz entwickeln, als wenn immer Erwachsene eine Kontrollfunktion übernehmen bzw. bereits von vorn herein Risikosituationen ausgeschlossen werden.

Haben Sie ein Beispiel für solch eine Risikokompetenz?

Ein Kind wird einen Baum nur dann erklettern bzw. nur bis in die Höhe klettern, die es sich selbst zutraut. Es hat nicht die Erwartung dass dieser Baum als Kletterbaum völlig sicher ist und es nicht selbst achtsam sein müsste. Es wird üben, in der Regel jedoch seine Fähigkeiten nicht überschreiten.

Foto: Dr. Hans-Joachim Schemel

Diese Fähigkeit der eigenen Einschätzung kann in Naturerfahrungsräumen deutlich einfacher erlernt werden als auf Spielplätzen mit herkömmlichen, genormten Spielelementen. Auch wird die Kreativität der Kinder durch die nicht genormten „Spielelemente“, die viel multifunktionaler einsetzbar sind als Spielgeräte auf Spielplätzen, besser gefördert. Aus diesen Lernprozessen, die in der Regel von Erfolg gekrönt sein werden, kann dann auch Selbstbewusstsein entwickelt und damit Eigenständigkeit erlangt werden.

Wollen sicherheitsbedachte Eltern denn überhaupt, dass ihre Kinder in freier Natur spielen?

Sie sprechen es an… Das Verhalten der Erziehungsberechtigten und deren Risikobereitschaft bzw. deren Vertrauen in die Fähigkeiten ihrer Kinder ist sehr wichtig. Häufig müssen zunächst vor allem die Eltern, Erzieher und Lehrer lernen, die Spielformen in Naturerfahrungsräumen zuzulassen, Vertrauen in die Fähigkeiten der Kinder zu bekommen und keine zu großen Ängste bezüglich Sicherheitsrisiken zu entwickeln. Ich kann übrigens verunsicherte Eltern beruhigen: Im Zuge unserer Recherchen zu bereits bestehenden Naturerfahrungsräumen, konnten wir nicht feststellen, dass in diesen mehr Unfälle passieren, als auf herkömmlichen Spielplätzen, von leichten Kratzern und Schrammen vielleicht einmal abgesehen.

Aufgrund der fortschreitenden Naturentfremdung wird es auch erforderlich sein, die Kinder (z. B. durch „Schnupperangebote“) wieder an die Nutzungsmöglichkeiten der Natur heranzuführen, da der bereits erreichte Grad der Naturferne dazu geführt hat, dass die Kinder zunächst keinen eigenständigen Zugang zur Natur finden und sie oft gar nicht wissen würden, was sie in einem Naturerfahrungsraum spielen könnten.

Ihr Projekt wurde durch das Bundesamt für Naturschutz mit Mitteln des Bundesministeriums für Umwelt und Naturschutz gefördert. Geht es um die Kinder oder um die Natur?

Hier geht es sowohl um Kinder bzw. um die Förderung ihrer Entwicklung als auch um Natur. Man hat erkannt, dass Natur- und Umweltbewusstsein nur dann in der Bevölkerung vorhanden sein können, wenn diese auch einen Bezug zur Natur hat. Nur wer mit Natur oder ihren Elementen frühzeitig in Berührung kommt, sich mit dieser befasst, kann sie auch schätzen lernen. Und gerade da liegt ein Problem. 

Eine ebenfalls vom BfN in Auftrag gegebene Studie zum Naturbewusstsein in Deutschland kommt für das Jahr 2009 zu dem Ergebnis, dass schon knapp ein Drittel der deutschen Bevölkerung zu den „Naturfernen“ oder „Desinteressierten“ gehört. Auch dieser Tendenz will man mit Naturerfahrungsräumen begegnen.

Naturerfahrungsräume, als naturnahe Lebensräume in der Stadt sind zudem gute Bausteine zum Erhalt der Artenvielfalt. Insofern können Naturerfahrungsräume sowohl der Kindesentwicklung als auch der Förderung von Naturbewusstsein und dem Erhalt der Artenvielfalt in unseren Städten dienen.

Warum hat sich Ihr Projekt auf NERäume in Großstädten fokussiert?

Es gibt bereits unterschiedliche Beispiele von Naturerfahrungsräumen in vielen deutschen Städten, jedoch kaum in Großstädten. Für Großstädte, wo diese Flächengrößen im wohnungsnahen Umfeld häufig nicht zur Verfügung stehen, steht eine Erprobung möglicher Mindestgrößen noch aus. Also wie groß muss ein NERaum mindestens sein, damit diese Fläche aufgrund von Übernutzung nicht an ihrer natürlichen Attraktivität und ihrer Lebensraumqualität verliert?

Ebenfalls gilt es noch genauer zu Erproben, welche Art der Betreuung bzw. Betreuungsintensität erforderlich ist, damit Naturerfahrungsräume ihrem Ziel entsprechend funktionieren können (d.h. Erhalt von Lebensraum- und Spielraumqualitäten, Erhalt der Attraktivität der Flächen, Bieten von Anreizen).

Ich will an dieser Stelle erwähnen, dass es in Berlin auf dem Gleisdreieck, unabhängig von unserem Projekt, bereits seit 2009 einen ersten Naturerfahrungsraum gibt, der besonders großen Anklang findet. Die Verantwortlichen haben dadurch sehr gute und hilfreiche Vorarbeiten geleistet und uns den Weg für unser Projekt geebnet.

Welche Aufgaben galt es während des Projektes zu lösen?

Zunächst einmal haben wir im gesamten Berliner Stadtgebiet systematisch nach geeigneten Flächen für Naturerfahrungsräume gesucht.

Da unser Projekt als Erprobungs- und Entwicklungsvorhaben angelegt war,wollten wir grundsätzlich untersuchen, welche Voraussetzungen für die Einrichtung und den Betrieb von Naturerfahrungsräumen in Großstädten geschaffen werden müssen. Wir haben uns dafür auch sehr viel theoretisch mit dem Kontext befasst und versucht, Rahmenbedingungen zu formulieren.

Außerdem war uns wichtig, ein entsprechendes Netzwerk aus Verwaltung (ressortübergreifend), Bildungsträgern und interessierter Öffentlichkeit aufzubauen, das alle Beteiligten an einen Tisch bringt, um vorhandene Erfahrungen zu sammeln und auszuwerten. Ganz konkret haben wir versucht, Naturerfahrungsräume v.a. bei den „grünen Fachämtern“ bekannter zu machen und diese in der Freiraumplanung bei der Bezirks- und der Senatsverwaltung zu verankern. Dies bedeutete unter anderem auch, nach Kooperationsmöglichkeiten zwischen Grünflächenämtern und Bürgern bzw. Initiativen oder sozialen Einrichtungen zu suchen, damit die notwendige Kontrolle und Betreuung der Flächen, die in Großstädten mit Sicherheit erforderlich sein wird, auch gewährleistet werden kann.

Was haben Sie bis heute erreicht?

Das Projekt lief über 14 Monate bis zum Februar 2012. In dieser Zeit konnten wir einen größeren Pool an Flächen, die für Naturerfahrung geeignet sind, zusammenstellen. Für einige dieser Flächen ist es uns bereits gelungen, die zuständigen Ämter sowie weitere Akteure, die bereit sind sich um die Betreuung der Flächen zu kümmern, zu gewinnen.

Außerdem ist es uns gelungen, mit dem Abschlussbericht einen Leitfaden zu erstellen, der aufzeigt, woran Kommunen denken und welche Fragestellungen sie im Vorfeld klären sollten, wenn sie beabsichtigen (systematisch oder im Einzelfall), Naturerfahrungsräume einzurichten. Darin haben wir zum Beispiel unsere Methodik zur Flächensuche und -bewertung, sowie weitere Hinweise zur Einrichtung und Unterhaltung der Flächen erläutert.

Zum Thema „Sicherheitsanforderungen für Naturerfahrungsräume“ haben wir auf der Basis der aktuellen Erkenntnisse ein Gutachten erstellen lassen, das praktische Hilfestellungen für potenzielle Flächeneigentümer und Flächenbetreiber von Naturerfahrungsräumen gibt. Das Gutachten ist Bestandteil des Abschlussberichtes.

Wie geht’s weiter mit den NERäumen in Großstädten?

Unser Projekt hat natürlich auch Fragen aufgeworfen bzw. offengelassen, die erst durch eine mehrjährige Erprobung zu beantworten sein werden (z.B. Ermittlung von Mindestgrößen, Ermittlung optimaler Betreuungskonzepte in Abhängigkeit des Umfeldes, Kostenermittlungen für den Betrieb, offene Fragen in Bezug auf die zu gewährleistende Verkehrssicherheit).

Deshalb hoffen wir, dass wir die zur Zeit noch vorhandene Finanzierungslücke für die nächste Projektphase in absehbarer Zeit durch weitere Projektförderer schließen können, um mit der Realisierung mehrerer Pilotflächen samt wissenschaftlicher Begleitung möglichst bald beginnen zu können.

Vielen Dank, Irma Stopka, für das Gespräch.


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